Kind Gottes

Als kleiner Junge besuchte ich oft meine Großeltern, die 50 km entfernt von uns wohnten. Eines Tages war ich in dem Ort, in dem sie lebten, alleine unterwegs. Ein alter Herr begegnete mir. Nachdem er mich von oben bis unten gemustert hatte, sprach er mich in breitestem Schwäbisch an: „Wem g’hersch?“ (Wem gehörst du?) Als ich mich als Sohn von Herrn Haefele ausgab, ging ein aufleuchtendes Erkennen über sein Gesicht, und er konnte mich einordnen.

Die Beschäftigung mit dem Grundwort für den heutigen Sonntag stellt uns im Grund vor die gleiche Frage: „Wem g’hersch?“ Wem gehörst du? Sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, auf diese Frage fröhlich zu antworten: Ich bin ein Sohn, eine Tochter Gottes?
Ehrlich gesagt, ich habe das so noch nicht gesagt. Warum nicht? Liegt es daran, dass ich Skrupel habe, diese einfache Tatsache so deutlich auszusprechen, weil ich mich nicht würdig genug fühle? Oder liegt es womöglich daran, dass ich gar nicht so recht weiß, was das eigentlich bedeuten soll und woher diese Bezeichnung kommt? Dem auf die Spur zu kommen, darum soll es jetzt gehen.

Kind Gottes im Alten Testament

Der Begriff „Kind Gottes“ kommt im Alten Testament nur äußerst selten vor. Dahinter mag sich verbergen, dass der Mensch des Alten Testaments, eher als „ADAM“ (der von der Erde = adama Genommene) denn als Kind Gottes verstanden oder gesehen wird.
Nichtsdestotrotz finden wir auch im Alten Testament Hinweise, dass das Volk Gottes in einem kindlichen Verhältnis zu seinem Herrn steht. In 5.Mose 14,1 heißt es: „Ihr seid Kinder des HERRN, eures Gottes. Ihr sollt euch um eines Toten willen nicht wund ritzen noch kahl scheren über den Augen.“ Gebräuchlicher allerdings ist die Bezeichnung Israels als Volk Gottes. Auch bei den Propheten taucht die Bezeichnung Kind Gottes nur selten auf, so einmal bei Hosea: „Es wird aber die Zahl der Israeliten sein wie der Sand am Meer, den man weder messen noch zählen kann. Und es soll geschehen, anstatt dass man zu ihnen sagt: Ihr seid nicht mein Volk, wird man zu ihnen sagen: O ihr Kinder des lebendigen Gottes!“ (Hos 2,1). Hier wird jedoch auch deutlich, dass diese Bezeichnung Teil der eschatologischen (=endzeitlichen) Hoffnung Israels ist, die noch darauf wartet, dass aus dem Volk Gottes die Familie der Kinder Gottes wird.

Nun könnte man sagen, dass die Bezeichnungen „Volk Gottes“ und „Kinder Gottes“ doch nah beieinander liegen. Doch dem ist nicht so. Zwischen diesen beiden Bezeichnungen ist eine nicht zu unterschätzende Steigerung der Vertrautheit festzustellen. „Volk Gottes“ ist nicht zuletzt ein politischer Ausdruck, in dem die besondere und verantwortliche Stellung Israels vor seinem Gott und vor den anderen Völkern zum Ausdruck kommt. Beim „Kind Gottes“ steht hingegen die familiäre Beziehung im Vordergrund. Diese familiäre Beziehung ist so innig, dass sie bisweilen für Außenstehende schwer zu verstehen ist, wie in der apokryphen Schrift „Weisheit Salomos“ deutlich wird, wo der Gottlose dem Frommen vorhält: „Er (der Fromme) behauptet, Erkenntnis Gottes zu haben, und rühmt sich, Gottes Kind zu sein“ (Weisheit 2,13). Diese Stelle macht denn auch noch einmal klar, dass die Rede vom „Kind Gottes“ für Israel eher ungebräuchlich war. Somit wird gerade im Unterschied zwischen den Begriffen „Volk Gottes“ und „Kind Gottes“ der Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament deutlich.

Kind Gottes im Neuen Testament

Die Begriffe

Im Neuen Testament kommt die Bezeichnung „Kind Gottes“ sehr häufig vor. Dabei sind die Begriffe, die dafür verwendet werden, so vielfältig wie die griechische Sprache. Es finden sich dort nicht weniger als sechs Vokabeln, die den Zustand des Menschen als Kind beschreiben. Die beiden häufigsten dieser Vokabeln im Neuen Testament bedeuten einmal das Kind als Abkömmling seiner Eltern und Vorfahren (teknon), sowie das Kind als ein Wesen, das in besonderer Beziehung zu einer bestehenden Gruppe, Person oder Gottheit steht (huios, eigentlich: der Sohn, wobei das Wort im Plural durchaus auch weibliche Nachkommen umfasst).

Das Wesen der Kinder Gottes

a) Wie man ein Kind Gottes wird

„Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben“ (Joh 1,11-12).
Um ein Kind Gottes zu werden, sind zwei Dinge nötig:
1. Gott, der Vater, kommt auf uns zu und wirbt darum, dass er Aufnahme findet. Dabei erlebt er viel Widerstand.
2. Jeder, der dem Werben Gottes nachkommt, wird von Gott damit beschenkt, dass er fortan sein Kind sein darf.

b) Wer ein Kind Gottes ist

Jedem gilt es: Die wichtigste Neuerung im Neuen Testament ist, dass allen Menschen das Angebot, Kind Gottes zu werden, gilt und nicht nur Angehörigen des Volkes Israel. Im 9. Kapitel des Römerbriefs macht Paulus auf diese Neuerung aufmerksam und unterstreicht das im Galaterbrief: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus“ (Gal 3,26).

Glaube gehört dazu: Gleichzeitig wird hier die untrennbare Verbindung von Glaube und dem Kind-Gottes-Sein deutlich. Mit Sicherheit: Der 1.Johannesbrief ist darum bemüht, den Nachfolgern Jesu ihre Kindschaft zu bestätigen: „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!“ (1.Joh 3,1) Aus diesem Zuspruch leitet Johannes dann aber auch den Anspruch ab: Kinder Gottes sind nicht Kinder des Teufels, was sich vor allem in ihrem Verhalten zeigt.

c) Wie ein Kind Gottes lebt

Der Anspruch: Es ist vor allem Paulus, der den Anspruch an die Kinder Gottes erklärt (Eph 5,1-9): Kinder Gottes sind geliebte Kinder. Die Liebe, mit der sie geliebt werden, hat sich in Christus gezeigt. Von Kindern, die so geliebt werden, erwartet Paulus nun auch ein entsprechendes Verhalten: Sie sollen Liebe leben, in sexueller und finanzieller Hinsicht ohne Tadel sein, ihr ganzes Reden und Handeln soll ihrem Stand entsprechen. Eindringlich warnt Paulus die Epheser davor, sich ihren Status als Kinder des Lichts nehmen zu lassen und wieder Kinder des Ungehorsams zu werden.

Ein kindliches Verhältnis: Die Kraft zum Leben dieses Anspruchs indessen ist nur da vorhanden, wo das Kind-Gottes-Sein sich in der inneren Haltung des Menschen wieder findet: „Ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater“ (Röm 8,14-21). Dieser kindliche Geist weiß darum, dass wir eine herrliche Perspektive haben: Es ist die Perspektive derer, die „frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (8,21). Diese Perspektive und das „Treiben des Geistes Gottes“ (8,14) prägen das Wesen und das Verhalten der Kinder Gottes. Der Auftrag: Kinder Gottes leben aber nicht nur einem Anspruch gemäß, sondern haben auch einen Auftrag: Sie sollen mitten in einer dunklen Zeit und unter verdorbenen und verkehrten Menschen „ als Lichter der Welt“ leben (Phil 2,14-16). Und das ohne Murren und ohne Zweifel und unter Festhalten am Wort des Lebens.

d) Welche Perspektive ein Kind Gottes hat

Kinder Gottes haben Zukunft: In Lukas 20,36 heißt es: „Sie können hinfort auch nicht sterben; denn sie sind den Engeln gleich und Gottes Kinder, weil sie Kinder der Auferstehung sind.“ Kinder Gottes haben die Perspektive des ewigen Lebens.
Kinder Gottes warten auf die Zukunft: „Wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1.Joh 3,2). Hier kommt die Spannung zum Ausdruck, in der Kinder Gottes leben. Sie wissen sich schon heute als Gottes Kinder, aber sie erleben sich selbst nicht immer als solche, weil die „Verwandtschaft“ zu den Kindern dieser Welt bei ihnen immer wieder durchschlägt. Die Gotteskindschaft ist noch verborgen (Röm 8,19), und darum warten Gottes Kinder auf den Tag, an dem ihre Kindschaft für sie selber und für alle Welt sichtbar wird.
Wem gehörst du?

Ein Kind Gottes zu sein, ist eine wahrhaft spannende Sache:

  • Kinder Gottes sind nicht von dieser Welt: Obwohl sie auf dieser Welt leben, haben sie die Perspektive von Gottes neuer Welt vor Augen.
  • Kinder Gottes sind reich beschenkt: Sie haben einen göttlichen Vater, der nicht nur immer verfügbar ist, sondern ihnen auch noch ein Erbteil in seinem himmlischen Reich versprochen hat.
  • Kinder Gottes sind frei: Sie können leben, ohne die Last von Schuld und Sünde mit sich herumschleppen zu müssen. Das befreit sie zu einem neuen Lebensstil.
  • Kinder Gottes sind lebensfähig: Durch den Heiligen Geist sind sie in der Lage, ein Leben zu führen, dass Gott gefällt und ihnen gut tut.
  • Kinder Gottes haben Zukunft: Obwohl sie wissen, dass diese Welt vergehen wird, müssen sie sich keine Sorgen machen, denn Gottes neue Welt gehört ihnen.
  • Kinder Gottes haben einen Auftrag: Als Bürger von Gottes neuer Welt sollen sie auf dieser alten Welt als Botschafter der neuen Welt leben, damit noch viele Kinder der alten Welt das unglaubliche Geschenk der Gotteskindschaft entdecken und annehmen.

Wenn man dies alles zusammennimmt, scheint es mir, dass die Gotteskindschaft eine absolut lohnende Sache ist. Was meinen Sie?

Cornelius Haefele, Gomaringen