Friede

Gottes Friede und menschlicher Friede

I. Friede ist Gabe Gottes - Frieden im Alten Testament

1. Die umfassende Bedeutung von „schalom“

a) Das hebräische Wort "schalom" bedeutete im AT weder ursprünglich noch hauptsächlich das, was wir im Deutschen mit "Frieden" übersetzen. Auf dem Hintergrund des orientalischen Nomadenlebens, das in fortwährender Unruhe und Bedrohung verlief und oft unerwarteten Angriffen von Tieren und Menschen ausgesetzt war, gewinnt die Grundbedeutung von schalom ihren Sinn: unbeschädigt, keinen feindlichen Angriffen ausgesetzt sein, unversehrt, vollkommen, ganz, heil sein bzw. leben.

b) In vier zusammengehörigen Bereichen äußert sich schalom:
 Im sozialen Bereich gehört zum schalom: Schutz von Witwen und Waisen und anderen sozialen Randgruppen wie Sklaven und Fremden, Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung, Schutz von Leben und Gut. Modern ausgedrückt: schalom ist "soziale Gerechtigkeit". Jedoch ist nirgends im AT die sozial-revolutionäre Tendenz der Neuzeit festzustellen mit dem grundsätzlichen Ziel einer Veränderung des gesellschaftlichen "Systems": Aufhebung oder Einebnung der sozialen Schichten und Gruppen ("klassenlose Gesellschaft").
Welche gegenwärtigen Friedensaktivitäten müßten unter diesem Gesichtspunkt kritisch befragt werden?
 Im juristisch-politischen Bereich ist schalom, wo Recht herrscht und Recht gesprochen und auch durchgesetzt wird. Hierher gehören auch Stellen, die Frieden als Gegensatz zum Krieg verstehen (2. Mo 18,23; Ps 85,11; 1. Kö 5,26).
 Im Bereich der Natur äußert sich schalom in Fruchtbarkeit und Überfluß (1. Kö 5,5; Ps 72,7).
Natur und Frieden: Wo muß dieser Zusammenhang unter uns neu gesehen und gelebt werden?
 Im religiös-kultischen Bereich gehört zum schalom die rechte Ausübung des Gottesdienstes. Der Tempel ist der Ort, wo der Herr schalom gibt (Ps 84,5.11.12). Alle vier Bereiche gehören im (Friedens-) Denken des AT im gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zusammen (ganzheitliches Leben und Denken).
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem umfassenden Friedensverhältnis für die heutige Friedensdiskussion?

c) Zusammenfassung:
 Wo also der gottesfürchtige Jude im AT in gutem Einvernehmen, in der Verbundenheit, in Gemeinschaft mit anderen lebt, wo er glücklich ist, äußeren Wohlstand und geistliches Gedeihen ("Heil") erfährt, lebt er im schalom.
 Schalom ist aber keine Möglichkeit des Menschen (s. IV,1!), sondern göttliche Heilsgabe (Ps 29,11; Jes 26,12) und entspricht dem Vorgang des Bundesschlusses mit Abraham und dem Volk Israel (Jes 54,10; Hes 37,26).
 Somit ist schalom der besondere Friede des Volkes Gottes, die "Umfriedung", die Gott seiner Gemeinde mitten in der friedlosen Welt der Völker baut (Ps 122,6-9).
Wo und wie erlebe ich zur Zeit diesen schalom?

2. Schalom im Gruß und im Segen

Bis heute grüßen sich Juden mit "Friede (sei) Dir/Euch"; beim Abschied sagt man: "Geh hin in schalom" (2. Mo 4,18; 2. Sam 15,9). Oder man fragt oder sieht nach dem schalom des anderen (1. Mo 29,6). Der Gruß fragt also nach dem Ergehen des anderen (vgl. das englische "How do you do") und wünscht oder sagt gutes Ergehen zu. Gleichzeitig wird dem Besucher oder Besuchten vollmächtig zugesagt, daß ihm nichts geschehen wird, entsprechend dem bei uns üblichen Reichen der waffenfreien rechten Hand. Beim Abschiedsgruß wird dem Besucher Bewahrung und Leitung zugesprochen. Diesen segnenden Charakter des Grußes empfinden wir bei uns heute noch manchmal, wenn Personen geistlicher Reife grüßen.
Ausgesprochene Segensformeln finden wir in 4. Mo 6,26 (aaronitischer Segen!), Ps 125,5; Ps 128,8. Göttlicher Schalom wird durch Gott selbst oder durch in der Macht Gottes handelnde Menschen weitergegeben.
Sind unsere Gruß- und Segens-(Glückwunsch-)formeln zu leeren Formeln geworden?

3. Schalom als gute Ordnung

Vor allem in den Büchern der Weisheit (Sprüche, Prediger, teilweise auch in den Psalmen und bei Hiob) ist schalom an das Halten der Gebote, des Gesetzes und der (göttlichen) Weisungen und Ordnungen in dieser Welt gebunden. Dem Weisen, dem Frommen und Gerechten wird es gut gehen, wenn er sich gemäß den Ordnungen Gottes verhält (Spr 3,1+2; Ps 119,165; 3. Mo 26,3-7). Umgekehrt hat der Frevler (Gottlose) keinen schalom (Ps 37,37+38; Jes 48,22).
Gegenakzent: Nicht jede Ordnung ist von Gott! Manches Einhalten einer Ordnung "um des lieben Friedens willen" kann auch einen "faulen Frieden" bedeuten! Wo müßte ich um Gottes Willen einen "faulen Frieden" durchbrechen und mutig für Gottes Sache streiten?

4. Schalom als Gegensatz zum Krieg

Nur wenige Stellen - meist in historisch berichtenden Zusammenhängen - nennen Frieden im Gegensatz zum Krieg (Ri 21,13; 1. Sam 7,14 u.a.). Frieden ist dann immer der politische Friede Israels. So kämpft im AT auch Gott für sein Volk Israel oder das Volk für seinen Gott, und der Sieg über den Feind ist gleichzeitig der Sieg Gottes über den Gott der Feinde. Da diese Voraussetzung unter den heutigen politischen Mächten nicht gegeben ist, müssen wir die Vorstellung eines "gerechten" oder gar "heiligen Krieges" endgültig verabschieden.
Im NT lesen wir nur in Offb 6,4 vom irdischen Frieden als Gegensatz zum Krieg.

5. Schalom als messianische Verheißung (Schalom bei den Propheten)

a) Die vorexilischen Propheten (Amos, Hosea, Micha, Jeremia) verwenden schalom in ihrer Predigt nicht. Sie reden vom Volk, seiner Schuld und seinem drohenden Untergang. Weil das Leben des Volkes nicht dem schalom dient, kann ihm auch von Gott kein schalom zugesprochen werden. Deshalb wenden sie sich auch hart gegen falsche Friedensapostel, die den Ernst der Lage verkennen und meinen, dem Volk Gottes könne nichts passieren (Jer 14,13+14; 6,14; vgl. dazu Jer 28,9; Hes 13,10+16).
Obwohl das AT in den großen Schriftpropheten erstmals ausführlicher von politischen Dingen spricht, steht nicht die Frage nach dem Frieden, nach dem Wohlergehen des Menschen, im Zentrum, sondern die Ehre Gottes (Gottes Gericht und Gnade): Wo sich der von Gott erwählte Mensch an Gott versündigt, muß er die Folgen tragen (Amos 3,2).
Es ist auch heute unter Christen leicht, vom Frieden zu reden, und unpopulär, Schuld aufzudecken!

b) Umso verständlicher wird auf diesem Hintergrund, daß vor allem die Propheten während und nach dem Exil das volle Heil Israels, der Menschheit, ja des ganzen Kosmos von einem zukünftigen Friedensherrscher erwarten (besonders im Jesaja, 2. Teil: Jes 52,7; 54,10.13; 55,12; Micha 4,3; 5,4+5; Hag 2,9; Sach 8,11-13 u.v.a.). Schalom wird so zum Inbegriff des kommenden Messiasreiches. Die Verwirklichung dieses endgültigen Friedensreiches liegt jedoch jenseits der menschlichen Möglichkeiten, nur Gott bringt den Frieden, nicht Israel, nicht der Mensch. Gott selbst setzt einen Neuanfang (Jes 9,6+7).
Ist unter diesem Aspekt "Entwicklung der neue Name für Frieden"? (Papst Paul VI.)

II. Friede ist Tat Gottes - Frieden im Neuen Testament

1. Jesus ist der Friede

In Jesus ist das erfüllt, was der Gott des Friedens, der mit sich in Harmonie ist und mit der Welt und seinen Menschen in Harmonie sein will, ursprünglich im Sinn hatte: einen Zustand geordneter Verhältnisse zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Welt. Der Friede Gottes ist also keine Sache (Philosophie, Prinzip, politisches Programm, psychologische Methode), sondern eine Person: der Friede Gottes hat also einen Namen: Jesus Christus (Eph 2,14a; Joh 16,33). In Jesus kommt Gottes Friede als neue Qualität zu den Menschen (2. Kor 5,17).

2. Schalom als Versöhnung

Im Gegensatz zum griechischen „eirene“ und römischen „pax“ liegt der Friede des NT nicht vor, sondern nach dem Unfrieden: Jesus als der Friedensbringer beendet den Unfrieden zwischen Mensch und Gott, unabhängig ob die Menschen dies anerkennen, danach leben oder nicht.
Dieser Friede ist keine Stimmung im Menschen, kein Seelenfrieden, sondern reale Wirklichkeit, ein Zustand aus Gott auf Grund der Rettungstat Gottes (Röm 5,1; Kol 1,19+20; vgl. Jes 53,5).
Die Weihnachtsbotschaft "Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens" ist die universale Proklamation - nicht des allgemeinen Weltfriedens, sondern dieses Versöhnungsangebotes Gottes: Heil für den Menschen und Heil für die Welt (..."allem Volk widerfahren..."; "Euch ist heute der Heiland geboren.").
Allerdings: "Es gibt keinen Frieden auf Erden, ohne daß Gott in der Höhe geehrt wird" (Hans v. Keler).

3. Schalom als Nähe Gottes

Wo Jesus hinkommt, bringt oder verbreitet er Frieden. Dann sind die Menschen der Sphäre entnommen, wo sie von finsteren Mächten beunruhigt und verletzt werden. Sie sind geborgen in der Nähe Gottes. Wenn Jesus mit "schalom" grüßt, ist dies nicht nur Wort und Wunsch, sondern besitzt Wirkung und Wirklichkeit: die Angeredeten werden in die Nähe Gottes versetzt (Joh 14,27; Lk 7,50).
Der Friedensweg Jesu durch diese Welt war ein Weg des Leidens, des Hasses, der Verachtung. Sein Friede findet oft mitten im Erleiden des Unfriedens und Unrechts statt. Das Erkennungsmerkmal des Friedensbotens waren seine Wunden (Joh 20,19-21.26). Seine Botschaft meint deshalb nicht einen politischen, militärischen, nationalen oder sozialen Frieden. Nirgends im NT wird die Aktion gegen ungerecht erscheinende, friedensstörende Strukturen gepredigt.
Wie ist dann aber Matth. 10,34 zu verstehen?

4. Schalom als Friedensdienst

Der Friede mit Gott durch Jesus setzt den Frieden mit den Brüdern voraus; die "senkrechte" Vergebung darf von der "waagerechten" Vergebung nicht getrennt werden (Mt 5,9; Mk 9,50; Hebr 12,14; Jak 3,18). Das Wort "Ist es möglich, soviel an euch liegt, haltet mit allen Menschen Frieden!" (Röm 12,18) zeigt die Aufgabe, aber auch die Grenze unseres Friedensdienstes. Da Frieden auch unter uns Christen nicht von selbst entsteht, wird Paulus nicht müde, zum Frieden aufzurufen (Röm 14,19; Eph 4,3).
Dieser Frieden ist aber nicht organisierbar, sondern nur von Menschen des Friedens (er)lebbar. Orientierungsmaßstab für unseren Friedensdienst ist nicht der Anspruch einer Bewegung, eines -ismus (Pazifismus), sondern der Lebensvollzug Jesu. In der Lebensverbindung mit Jesus - und nur so - können wir den Frieden leben, für den Frieden leiden und von dem Frieden weitersagen, der unser Denken bei weitem übersteigt (Phil 4,7).
Wie sieht unser Friedensdienst konkret aus?

5. Schalom als eschatologische Ankündigung

Der Friede, den Jesus Christus gebracht hat und bringt, findet seine sichtbare Vollendung in der zukünftigen, neuen Welt Gottes. AT und NT stimmen in diesem Ausblick überein. Gottes ewiges Friedensreich ist nicht die "Realutopie" menschlicher Friedensanstrengungen, sondern eine einzigartige Neuschöpfung, die noch aussteht (Röm 16,20; 2. Petr 3,13+14; Offb 21,1-4).
Trotzdem gilt Lk 19,13!

III. Die heilsgeschichtlichen Friedenslinien

1. Die positive Linie

Die Schöpfungsgeschichte zeigt uns: Die Erde ist im Frieden und für den Frieden geschaffen. Die Menschen haben Frieden, weil sie bei Gott wohnen (Paradies). Seit dem Sündenfall sind "Notstandsgesetze" zur Wiedergewinnung bzw. Behaltung von Frieden nötig: Der Bundesschluß mit Noah (1. Mo 8) sichert das Bestehen der Erde und die Versorgung der Menschen, der Bundesschluß mit Abraham und mit dem Volk (2. Mo 19+20) am Sinai sichern das besondere Erwählungsverhältnis des Volkes zu Gott sowie das Zusammenleben untereinander. Die Könige in Israel soll(t)en sich als Anwälte des Friedens verstehen (vgl. 2. Sam 7,8-16; 1. Chr 22,9; der Name "Salomo" ist verwandt mit "schalom"!).
Die prophetischen Friedensvisionen und -verheißungen (neuer Bund, Rückkehr, Messias, Friedensreich, universaler Friede) werden durch Jesu Leben, Tod und Auferstehung personbezogen, noch nicht politisch erfüllt, durch die Gegenwart Jesu im heiligen Geist in der Jesus-Nachfolge erfahrbar und durch Jesu Wiederkunft für Israel und die ganze Welt vollkommen erfüllt und vollendet: Sichtbare Neuschöpfung eines Friedenskosmos, in dem Gott bei den Menschen wohnt.

2. Die negative Linie

Sündenfall und Kains Brudermord sind die Ausgangspunkte des Unfriedens zwischen Mensch und Gott und Mensch und Mitmensch.
Das Königtum in Israel ist der menschliche Versuch, Frieden zu gewinnen. Die Teilung des Reiches, die assyrische und babylonische Gefangenschaft sowie der politische Niedergang Israels durch wechselnde Besatzungsmächte nähren die Erwartung eines politisch-messianischen Friedensreiches und verbauen bis hinein in die Kreise der Jünger das Verständnis des Friedens, den Jesus bringt (Lk 7,18-23; 24,21; Apg 1,6). In späteren Jahrhunderten wird der neutestamentliche Friedensgedanke ebenfalls oft machtpolitisch mißverstanden: So verknüpft sich z.B. das Christentum, als es Staatsreligion wird (Konstantin d. Große, 313 n. Chr.), mit dem Friedensideal der Pax Romana (Friede durch die Weltherrschaft Roms). In der Zeit der Kreuzzüge werden (Gewalt-)Herrschaft und "heiliger Krieg" christlich begründet, weil sie zur Erreichung irdischen Friedens bzw. zur Missionierung der Heiden nötig seien. Andererseits zeigt die Kirchengeschichte bis heute auch ein anderes Mißverständnis: die Reduzierung des Friedensbegriffs auf einen innerlich-jenseitigen, gesellschaftsfeindlichen Seelenfrieden (z.B. Gnosis, Augustin).

IV. Friede ist Qualität Gottes

1. Mit Friede bezeichnet die Bibel an vielen Stellen im AT und NT das Wesen Gottes

bzw. eine Eigenschaft Gottes: Gott ist Friede (Ri 6,24; 1. Kor 14,33) oder: Der Friede Gottes... bzw. Der Gott des Friedens... (Röm 15,33; Phil 4,7; 1. Thess 5,23 u.v.a.)
Konsequenzen:
 Gott allein gibt und schafft Frieden (Jes 45,7; Hag 2,9; 2. Thess 3,16); vgl. unter II,3.
 Nur wo Gottes Herrschaft (=Reich Gottes) auf Erden aufgerichtet wird, ist Friede (Röm 14,17; Kol 3,15).
 Menschliche Friedensbemühungen ohne den Gott des Friedens müssen scheitern, weil ihnen der unsichtbare Bezugspunkt und der außerirdische Maßstab fehlt: Wer legt wie fest, wann "Friede auf Erden" ist?

2. Gottes Friede und der Weltfriede sind nicht identisch

Zwar haben menschliche Friedensbemühungen mit dem göttlichen Frieden zu tun (Gott will den Frieden in unserer Welt), aber der von Gott geschenkte Frieden und der von Menschen geschaffene Frieden unterscheiden sich qualitativ (Joh 14,27!): So können z.B. Menschen den Frieden in der Welt nicht verwirklichen, ohne schuldig zu werden; auch kann sich der göttliche Friedenswille anders äußern als im menschlichen Frieden: in Gericht und Leiden (Röm 11,33ff; 2. Kor 12,9).
Konsequenzen:
 Auf irdische Friedensbemühungen darf nicht verzichtet werden; Resignation ist Sünde!
 Das Heil des Menschen und das Heil der Welt sind nicht gegeben, wenn persönliche oder politische Friedensschlüsse gelingen oder gar der Weltfrieden realisiert wird.
 Wenn menschliche Friedensbemühungen erfolglos bleiben, ist damit das Heil für die Menschen und die Welt noch nicht verloren. Der Friede Gottes bleibt auch Friede im Krieg und in jeder Art von Unfrieden.

Martin Kuhn, Reutlingen