Der Herzschlag Hülbens

Hülben hat schon immer einen ganz besonderen Herzschlag. Der Grund liegt nicht zuletzt in Originalen, die durch ihre Art prägende Figuren ihrer jeweiligen Zeit waren. 

https://www.youtube.com/watch?v=2Gc2dtg6nnI

Prägende Figuren der Hülbener Geschichte

Autor: Pfarrer i.R. Konrad Eißler, Hülben
Lesedauer: ca. 5-7 Min.

„Die Alb ist das schönste Mittelgebirge der Welt“ urteilte ein welterfahrener Bischof von Stuttgart. Mein Vater stimmte ihm zu. Er verstand seinen Namen Albrecht immer als Aufforderung: „Genieße die Alb recht.“ Auch ich bin zu dieser Meinung gekommen. Die Alb ist dem Himmel ein Stückchen näher als das übrige Land. 

Das war nicht immer so. Das Leben auf dem größten Karstgebirge Deutschlands war mühsam. Der Regen versickerte rasch in den Klüften des Kalkgesteins. Damit stellte die Versorgung mit sauberem Trinkwasser ein permanentes Problem dar. „Strohgelb bis kaffeebraun hat sich das Wasser gefärbt, das von den Strohdächern niederrann …“

Bis Karl Ehemann kam. Dieser Ingenieur und Baurat legte im Jahre 1866 dem Ministerium Pläne zur Wasserversorgung vor. Die wurden angenommen und schnell realisiert. Bereits 1871 floss „unter wahrem Festjubel der Bevölkerung das herrlichste Wasser aus einer Zahl von stattlichen Brunnenröhren“.

Sprudelndes Wasser

Aber schon hundert Jahre früher wurde die Alb nicht nur mit sprudelndem Wasser, sondern mit lebendigem Wasser versorgt, eine Albwasserversorgung besonderer Art. Ein Wasserträger wie Johann Ludwig Fricker, Pfarrer in Dettingen (1762-64), brachte sonntags dieses kostbare Gut den Berg herauf und machte mit seiner Predigt vom Kreuz das Filialkirchlein in Hülben zur Quelle des lebendigen Wassers. Menschen wie zum Beispiel Anna Katharine Kullen und ihr Mann Schulmeister Wilhelm Kullen, konnten ihren Durst stillen. Die von ihnen eingerichteten Gemeinschaftsstunden wurden zu Brunnenstuben geistlichen Lebens, die das Wachstum des Glaubens auf der rauen Alb 250 Jahre lang beförderten. 

Diese „Stundenleute“ sind Bibelleute. Diese „Gemeinschaftsleute“ sind Bibelleser. Diese „Jesusleute“ sind Liebhaber der Bibel. Aus dem Wort schöpfen sie alles, was zum Leben und Sterben nötig ist: Glaube, Liebe und Hoffnung. Sola scriptura haben sie bei Luther gelernt, allein die Schrift. Sie darf nicht korrigiert oder gar eliminiert werden. Ein Liedvers von Graf Zinsendorf wurde zum Cantus firmus, auf den alles gestimmt ist: „Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn. Mir ist‘s nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun.“

Vergiftetes Wasser

Jede Wasserversorgung ist ein ständiger Kampf um sauberes Wasser. Auch das lebendige Wasser kann durch liberale Geistesströme verunreinigt und dadurch ungenießbar werden. So wurden diese Bibelfreunde immer wieder mit dem Hinweis verunsichert, dass mit dem Wort schon viel Schindluder getrieben worden sei. Vom Rattenfänger von Hameln zum Beispiel gäbe es viele Worte, die ihn als mittelalterlichen Stadtpfeifer beschrieben. Mit Musik, ohne Gift, einfach umweltfreundlich beseitigte dieser ökologisch denkende Mensch die Rattenplage. Aber war das eine historische Gestalt? Lebte er wirklich um 1280? Oder haben wir es mit einer Märchenfigur zu tun? 

Petrus schenkt klares Wasser ein: Wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt. Wir sind nicht schönen Sagen nachgegangen. Wir sind nicht netten Märchen auf die Spur gekommen. Petrus sagt (2. Petrus 1,16-21): Wir sind auf dem Berg Hermon angekommen, wo wir Augen- und Ohrenzeugen eines unvergesslichen Dreiergipfels wurden. Jesus erschien bei dieser Verklärung im Lichtglanz und eine Stimme sprach: „Dies ist mein lieber Sohn.“ Und wenn sie ihn als Rattenfänger anprangern, der die Leute verführt: „Dies ist mein lieber Sohn.“ Und wenn sie ihn als Eulenspiegel verlachen, der nur seine Späße macht: „Dies ist mein lieber Sohn.“ Und wenn sie ihn als Don Quichotte verspotten, der nur eine tragische Figur abgibt: „Dies ist mein lieber Sohn.“ Jesus ist eine historische Gestalt. In Bethlehem geboren. In Nazareth aufgewachsen. In Jerusalem gekreuzigt und auferstanden. „Das Wort war Fleisch und wohnte unter uns.“ 

Lebendiges Wasser

Die biblischen Schriftsteller griffen deshalb zu Papyrus und Tinte, weil Gott zu ihnen gesprochen hat. So malte der Meister Rembrandt den schreibenden Apostel Matthäus, wie der mit Feder und Kiel in der Hand meditiert, formuliert, disponiert. Aber im Hintergrund, ganz nahe am Ohr des Schreibers, hat Rembrandt einen Engel gemalt, der ihm seine göttlichen Worte zuraunt. Der lebendige Gott ist der Autor der Heiligen Schrift. 

Niemand muss Angst haben, beim Bibellesen irgendwelchen Spinnern auf den Leim zu kriechen. Propheten sind keine Phantasten. Evangelisten sind keine Wahrsager. Apostel sind keine Romanschriftsteller. Alle biblischen Schreiber haben das weitergegeben, was ihnen vom Heiligen Geist eingegeben wurde. Dazu gehört die Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn. Sie ist den Bibelfreunden bis heute wichtig geblieben. Christen leben nicht nur in der Erinnerung, sondern in der Erwartung. Es wird nicht ewig geweint, gelitten und gestorben, aber es wird ewig die Herrlichkeit des Herrn gelobt und gepriesen werden.

Also gilt: Karl Ehemann hat dafür gesorgt, dass auch auf der Alb sprudelndes Wasser zur Verfügung steht. Für das lebendige Wasser sorgt der Herr selber in seinem Wort: „Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ (Offenbarung 21,6) Albwasserversorgung gratis.

Konrad Eißler ist Pfarrer im Ruhestand und lebt in Hülben


Die "Seelen" des Schulhauses

Auszug aus dem Buch "Das Kullen-Schulhaus in Hülben", von Rolf Scheffbuch
Lesedauer: ca. 2-3 Minuten

Männer sind in vielen Bereichen durch Frauen ersetzbar. Aber keine Frau ist durch einen Mann dort ersetzbar, wo es um die „Seele des Ganzen“ geht. Im Lied von Elisabeth Cruziger lautet eine Zeile: „… und dürsten stets nach dir!“ Solches Dürsten war es, was die Frauen im Haus Kullen verband – bis hin zur Großmutter des heute im Schulhaus lebenden direkten Nachfahren Dr. Siegfried Kullen.
Eine „Hausmutter“ des Schulhaues war Pauline Marie Kullen, geb. Herrmann (1841-1921), Tochter des Oberamtstierarztes und Gastwirts Herrmann in Münsingen. Sie ergänzte ideal ihren Ehemann Johannes Kullen (1827-1905). Über dem Wesen des Ehemanns lag etwas Sonniges, „wie die Sonne aufgeht in ihrer Macht“. So sagt es die Bibel denen, die „Gott lieb haben“. 

Offenes Haus und Herz

Bei Pauline Kullen ging es mehr nach dem Motto: „Kinder, sterben ist nicht schwer, aber leben!“ Sie lebte bewusst und ganz in der Verantwortung vor Gott, arbeitsam bis zum Letzten, für die Nöte der Nächsten offen, nie an sich selbst denkend. So war ihr Leben nicht geprägt von jubelnder Freude, sondern vielmehr vom Bemühen, es dem Herrn Jesus in allen Bereichen des Lebens recht zu machen. Als Gastwirtstochter hatte sie besonderes Geschick und auch Freude daran, viele Gäste im Schulhaus verköstigen und beherbergen zu können. Am allerweitesten jedoch öffnete sie Haus und Herz für ihre verheirateten Kinder und für ihre zweiundzwanzig Enkel, denen Hülben ein Jugendparadies wurde. Schmerzlich war es für sie immer, wenn sie den Eindruck hatte, dass der Besuch der Brüderkonferenzen nachlassen würde. So lebte sie ganz als Haus- und Stunden-Mutter. Bitter war es für sie, dass sie nach dem Tod ihres Mannes nach und nach das Augenlicht verlor. Sie ließ sich aber viel vorlesen und wurde immer mehr bewährte Seelsorgerin der vielen Familienmitglieder und vieler Hausgäste. In ihren letzten Leidenstagen riet ein verwandter Arzt: „Jetzt nur Morphium!“ Die Schwerkranke hatte es gehört – sagte aber klar: „Nein, solange ich lebe, nur Gottes Wort!“ 

Pfarrer Rolf Scheffbuch (1931-2012) war u.a. Dekan in Schorndorf und Prälat in Ulm. Er war Vorsitzender der Ludwig-Hofacker-Bewegung und maßgeblich an der Gründung von ProChrist beteiligt.

Autor: Hans-Dieter Frauer, Herrenberg
Lesedauer: ca. 8-10 Min.

In Hülben ist es ein Dreivierteljahr Winter und ein Vierteljahr kalt. Das Wort von der „Rauen Alb“ hat für den Ort oberhalb von Bad Urach durchaus seine Berechtigung. Eben hier aber, wo sich die Schwäbische Alb von ihrer mehr unwirtlichen Seite zeigt, da schlägt das Herz des Altpietismus und von hier aus sind ungezählte geistliche Impulse und Anregungen in das württembergische Land und darüber hinaus ausgegangen.

Hülben ist ein lebendiges Zentrum des frühen Pietismus geworden und bis heute geblieben. Zwei Mal im Jahr – am Kirchweihmontag, dem dritten Montag im Oktober, und an Silvester – sind hier überregionale Treffen der Apis. Vor allem die Kirchweihmontagkonferenz entfaltet wachsende Anziehungskraft: es kommen so viele Teilnehmer aus einem weiten Einzugsbereich, dass an diesem Tag sogar in Hülben die Parkplätze knapp werden. 

Die Ausstrahlung, die von Hülben ausgeht, ist untrennbar mit der Geschichte der örtlichen Schulmeisterfamilie Kullen verbunden. Von 1722 bis 1966 (mit einer Unterbrechung ab 1939) waren immer nur Angehörige dieser Familie Lehrer an der örtlichen Schule. Generationen von Heranwachsenden haben sie nicht nur das notwendige schulische Wissen vermittelt, sondern auch ihren Glauben unaufdringlich und beispielgebend vorgelebt. Mit ihrer feinen pädagogischen Art haben sie so viele Menschen geprägt – auch und gerade in ihren Gemeinschaftsstunden. Ihnen sind ungezählte geistliche Anregungen und Impulse zu verdanken.

Das damalige Herzogtum Württemberg wurde erst 1534 – lange nach der Veröffentlichung der Thesen Martin Luthers – für den evangelischen Glauben gewonnen und dann im Sinne der Reformation nachhaltig umgestaltet; dazu gehörte, dass es ein flächendeckendes Schulnetz erhielt. Jeder sollte in der Lage sein, selbst die Bibel zu lesen. Württemberg – das einzige größere evangelische Territorium südlich der Mainlinie und rings umgeben von militant-altgläubigen Gebieten – befand sich in beständiger Diaspora-Situation. Daher entstand eine Mehrfach-Identität: man war Württemberger und man war evangelisch. Da war es schon wichtig, in Glaubensdingen Bescheid zu wissen und in ihnen sprachfähig zu sein.

Die pietistische Minderheit prägte das Land

Die evangelische Sonderentwicklung Württembergs hat sich nach dem 30-jährigen Krieg (1618-1648) fortgesetzt. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde hier der Pietismus heimisch und in fast allen Gemeinden gab es „Privaterbauungsstunden“. Ab etwa 1750 gingen die Leitungsämter dort vermehrt an Nicht-Theologen über, besonders an Schulmeister, und im 19. Jahrhundert waren die meisten Gemeinschaftsleiter Lehrer, in Hülben eben Angehörige der Familie Kullen. Von ihr wurde der Alb-Ort auch deshalb stärker geprägt, weil das arme Hülben erst 1866 einen eigenen Pfarrer erhielt. 

Dem Pietismus ist die Bibel das Lehr- und Lebensbuch schlechthin und die nicht auszuschöpfende Summe der göttlichen Weisheit. Darum wird sie nicht nur gelesen sondern studiert. Man fragt sich: Was steht da? Was bedeutet das? Was bedeutet das für mich? Was ist zu tun? Damit hat der Pietismus in Württemberg Anliegen der Reformation aufgenommen und sie weiter geführt. Obgleich ihm niemals mehr als etwa sieben Prozent der Einwohner zuzurechnen waren, prägte er doch die Menschen und das Land so nachhaltig, dass es bis heute nachwirkt.

So war es von Anfang an wichtig, den Glauben über den ohnehin biblisch geprägten Schulunterricht hinaus den Kindern vertieft zu vermitteln. Aus dieser Überlegung sind – eben durch den Pietismus – schon ab 1681 die ersten Kindergottesdienste entstanden und ab 1723 die Konfirmationen nach vorausgehendem biblischem Unterricht. Gerade Schulmeister wurden deshalb für die Weitergabe des Glaubens immer wichtiger und wenn sie Pietisten waren, so trug dies viel zur Verankerung des Glaubens bei. 

Überregionale Treffen bereichern den Pietismus

Im Pietismus hat man immer auch Antworten auf Herausforderungen der Zeit gesucht. In Hülben begründete deshalb der Schulmeister Jakob Friedrich Kullen in den Wirren der nachnapoleonischen Zeit die heutige Kirchweihmontagkonferenz. Ihn bekümmerte es, dass damals das Kirchweihmontagsfest immer ausgelassener und zügelloser gefeiert wurde. Um Mädchen vor Auswüchsen zu bewahren, lud er sie ins Schulhaus ein, bewirtete sie und erzählte ihnen biblische Geschichten. Der Brauch wurde fortgeführt, Enkel Johannes führte – jetzt für Erwachsene – die bis heute üblichen „Hausaufgaben“ ein: die Konferenzteilnehmer haben ein Lied und einen der 69 Psalmen auswendig zu lernen, die sich den sieben Bitten des Vaterunsers zuordnen lassen. Über sie wird dann in der Kirchweihmontagkonferenz des folgenden Jahres gesprochen. So ist eine in ihrer Art einmalige große Glaubenskonferenz mit überregionaler Ausstrahlung entstanden.

In Hülben ist der ursprüngliche weltoffene Altpietismus bis heute erhalten. Er wirkte stets in die Weite, weil hier schon früh regelmäßig zu „Monatsstunden“ eingeladen wurde. Redende Brüder und interessierte Gemeinschaftsleute, vorwiegend aus den Bereichen Urach und Münsingen, kamen immer am letzten Samstag im Monat nach Hülben. Dort ging es nicht nur um geistliche Zurüstung und brüderliche Begleitung, da gab es auch persönlichen Austausch und es entstanden oft lebenslange Freundschaften. Aus diesen Monatsstunden heraus hat sich die Silvesterkonferenz am letzten Tag des Jahres entwickelt. 

Daneben gedieh Hülben – ungeplant und ungewollt – auch zum evangelischen Heiratsmarkt. So mancher Theologiestudent, der von Tübingen aus die Stunde in Hülben kennen lernen wollte, fand hier seine Lebensgefährtin. Der bekannteste unter ihnen ist Wilhelm Busch, später ein bekannter Pfarrer in Frankfurt. Seiner Ehe mit Johanna Kullen entstammte der spätere Evangelist Wilhelm Busch. Das wiederum führte zu einem geistig-geistlichen Austausch bis nach Essen und sorgte für gegenseitige Befruchtung und einen weiten Horizont. 

Hans-Dieter Frauer ist Journalist und hat zahlreiche Bücher zur Geschichte der Württembergischen Landeskirche und des Pietismus geschrieben