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Wie die Stund' vor 250 Jahren anfing
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Was die Hülbener vor 250 Jahren prägte

Autor: Prof. Dr. Siegfried Kullen, Hülben
Lesedauer: ca. 15-18 Min.

Geprägt von Pfarrern, Lehrern, Bauern und Handwerkern

Wenn wir die lange Geschichte der Hülbener Stunde im Rückblick betrachten, kann man nur staunen. Seit 1768 gibt es diese Stunde ohne Unterbrechung bis heute. Dennoch war es keine Triumphstraße, sondern auch ein Weg voller Brüche und Krisen.

Hülben, in ca. 700 m Höhe auf der Uracher Alb gelegen, war im 18. Jahrhundert mit seinen steinigen Äckern und seinem rauen Klima ein armes Bauerndorf. Es besaß eine kleine Kirche, hatte aber keinen eigenen Pfarrer, sondern war bis 1866 kirchlich eine Filiale von Dettingen/Erms. Der zweite Pfarrer von Dettingen, auch „Helfer“ genannt, musste Hülben geistlich betreuen. Alle 14 Tage predigte er in der Hülbener Kirche und versah die anstehenden Kasualien (Taufen und Hochzeiten). Um den geistlichen Herren ihre Arbeit zu erleichtern, hatte man von Dettingen aus ein „Pfarrwegle“ angelegt, ein bis heute viel begangener Albaufstieg.

Dettingen war das zentrale Pfarrdorf im Ermstal und hatte durch die Jahrhunderte fromme, bibeltreue Pfarrer. Im 18. Jahrhundert waren es vor allem Friedrich Christoph Steinhofer (1706-1781) und Johann Ludwig Fricker (1729-1766), die den Pietismus im Ermstal und auf der Uracher Alb begründet und heimisch machten. Pfarrer Fricker wurde für Hülben besonders wichtig. Er hatte an dem kleinen Albdorf und seinen Bewohnern eine besondere Freude. Er hielt dort nicht wie vorgeschrieben 14-tägig einen Gottesdienst, sondern nahm jeden Sonntag den beschwerlichen Albaufstieg auf sich, um dort zu predigen. Er spürte, hier gab es offene Ohren und Herzen für das Evangelium. 

Eine Hülbenerin fand zum lebendigen Glauben

Von den Predigten Frickers wurde die Frau des Schulmeisters Kullen, Anna Katharina, geb. Buck, besonders angesprochen. In einem seelsorgerlichen Gespräch gestand sie ihrem Pfarrer ihre innere Unruhe und ihren Mangel an Glaubensgewissheit. Pfarrer Fricker war ein in sich gekehrter Mann, der nicht viele Worte machte. Er gab ihr den Rat: „Frau Schulmeisterin, lese Sie die Römerepistel!“ Nach einem erneuten Besuch im Hülbener Schulhaus sagte sie zu ihm: „Der Römerbrief ist etwas für die Dettinger, nichts für die Hülbener.“ Sie wollte damit sagen, solche Menschen, wie sie in den ersten Kapiteln des Römerbriefs beschrieben werden, gibt es wohl im gewerbefleißigen Dettingen, aber nicht im frommen, gesitteten Hülben. Pfarrer Fricker sagte nur: „Frau Schulmeisterin, lese Sie den Römerbrief noch einmal.“ Bei einem weiteren Gespräch sagte sie dann zu Fricker: „Ja, der Römerbrief ist auch etwas für die Hülbener – er ist auch für mich!“ Pfarrer Fricker antwortete nur: „Jetzt ist Ihr ein Licht aufgegangen, bei diesem Lichte lernt man.“

In der Schule Jesu

In Hülben war durch die Bekehrung von Anna Katharina Kullen ein Licht aufgegangen. Aber das Glaubenslicht musste gepflegt und bewahrt werden. Man begab sich deshalb in die Schule Jesu. Am Sonntagnachmittag las man im Kreis der Familie die Schriften von Steinhofer, besonders aber die von Albrecht Bengel. Man rechnete mit der nahen Wiederkunft des Herrn, so dass Wilhelm Kullen, der Mann von Anna Katharina, sagen konnte: „Ob wir diese Dinge, die Bengel erwartet, erleben werden, wissen wir nicht, aber unser Jakob Frieder wird es gewiss noch erleben.“ Bald lud man die führenden pietistischen Laienbrüder aus Dettingen, Handel und Daumüller, zu diesen Sonntagstreffen ein. So entstand um 1768 die Hülbener Stunde. 

Höhepunkte des Gemeinschaftslebens waren die Monatskonferenzen, die bis heute noch am letzten Samstag im Monat im alten Schulhaus stattfinden. Hier kommen Gemeinschaftsleute aus den Orten des Dekanat Münsingen–Urach, dem Raum Reutlingen, aus dem Lenninger Tal und vereinzelt auch aus anderen Orten Württembergs – zu einer Glaubenskonferenz zusammen. Die Hülbener Gemeinschaft blieb durch die Zeiten eng mit der evangelischen Kirche verbunden, separatistische Neigungen gab es nie. 

Die Hülbener "Stunde" hat nicht nur eine äußere Nähe zur Kirche

Die Kullenlehrer als Stundhalter

Zu den Besonderheiten Hülbens gehört, dass sich das Amt des Schulmeisters über sechs Generationen (1724-1936) in der Hand der Familie Kullen befand. Sie stellte nicht nur die Dorfschullehrer, sondern betrieb zugleich eine Landwirtschaft und blieb als Träger und Förderer der Stunde immer eng mit der pietistischen Bewegung verbunden. Während des ganzen 19. Jahrhunderts haben die Kullenlehrer die Stunde geleitet.

Aus einem noch erhaltenen Brief geht hervor, dass der Sohn von Wilhelm und Anna Katharina Kullen, Jakob Friedrich Kullen (1758-1818), am Sonntag Lätare 1784 zum ersten Mal in der Stunde gesprochen hat. Er war ein demütiger Mensch. Schon als Knabe schrieb er auf den Deckel eines Schulhefts: „Ich bin ein böser Bub, wie’s wenig geit, aber der Herr ist mein Licht und mein Heil.“ Er wuchs in eine aufregende Zeit hinein, die durch die napoleonischen Kriege und im geistigen Leben durch die Aufklärung geprägt war. Jakob Friedrich litt an beiden. Sein jüngerer Bruder Wilhelm musste als Soldat mit den napoleonischen Heeren nach Russland ziehen, wo er vermutlich vor Moskau gefallen ist. Er hatte aufgrund seines bekennenden Glaubens von seinen Kameraden den Spitznamen „Bibelhusar“ erhalten.

Im kirchlichen und schulischen Leben war der Geist der Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert bestimmend geworden. Biblische Inhalte wurden zugunsten einer platten bürgerlichen Moralphilosophie zurückgedrängt. Jakob Friedrich hat sich mit vielen anderen stark gegen den Rationalismus gewehrt und ließ sich auch durch die angedrohten hohen Geldstrafen nicht von seiner Haltung abbringen. Wichtig war ihm die tägliche Begegnung mit dem Wort Gottes. Kurz vor seinem Tod bekennt er: „Das Wort Gottes ist mein Stab an dem ich täglich laufe und wenn das nicht wäre, so müsste ich um meiner täglichen Sünden und Gebrechen willen vor Gott vergehen. Der Heiland sei gelobt für sein liebes Wort.“ 

Christian Friedrich Kullen (1785-1850)

Das Leben seinen ältesten Sohnes Christian Friedrich Kullen (1785-1850), der das Erbe in Hülben aufnahm, verlief in einer ruhigeren Zeit. Es heißt von ihm, er sei ein Kind des Friedens gewesen. Bei einer kritischen Diskussion mit Theologen, die den Pietisten Engstirnigkeit und Gesetzlichkeit vorwarfen, sagte er: „Meine Herren, ich habe ein Herz wie ein Scheunentor, wenn’s nach mir ginge, wollte ich sie alle mit in den Himmel nehmen.“ Auf ihn geht die Kirchweihmontagstunde zurück, die heute noch besteht und eine Besonderheit Hülbens darstellt. Damals war es in Württemberg üblich, die Kirbe mit Tanz und allerlei Lustbarkeiten zu feiern, was den frommen Stundenleuten im Hinblick auf ihre Kinder große Sorgen machte. Sie klagten ihre Nöte dem Hülbener Schulmeister. Als erfahrener Pädagoge wusste er, dass Verbieten allein keine frohen Christenmenschen macht. Daher sagte er seinen Brüdern: „Schickt am Montag nach der Kirchweih eure Kinder zu mir nach Hülben. Dort bekommen sie einen Kaffee und anschießend will ich ihnen eine biblische Geschichte erzählen.“ So fing es an.

Sein Sohn Johannes ging dazu über, von Jahr zu Jahr einen Psalm und einen Choral zum Auswendiglernen aufzugeben. Der Psalm wurde anschließend in einer Stunde, an der bis zu 12 Brüder als Redner teilnahmen, besprochen. Heute wird die Kirchweihmontagstunde vom Pfarrer Ulrich Scheffbuch aus Stuttgart geleitet, einem Ur-Ur-Urenkel von Christian Friedrich.

Johannes Kullen (1827-1905)

Johannes Kullen (1827-1905) musste nach dem Tode seines Vaters bereits mit 23 Jahren Lehreramt und Stundenleitung übernehmen. Während er gerne Lehrer wurde, fiel im die Übernahme der Stunden schwer. Jahrelang hatte er kein freies Wort in der Stunde gesprochen, sondern Predigten vorgelesen. Er sagte, lieber wäre er nach Amerika ausgewandert oder Stallknecht in einem Wirtshaus geworden, als Stunden zu halten. Im Laufe der Jahre gewann er aber zunehmend an Sicherheit und konnte meisterhaft biblische Texte auslegen. Er würzte seine Ausführungen mit kleinen Geschichten aus dem Alltag und aus der Weltgeschichte. Sein Anliegen war, den jungen und alten Zuhörern den Heiland Jesus Christus groß und lieb zu machen. Regelmäßig besuchte er die Monatsstunden der Umgebung, wobei er oft Fußmärsche von bis zu 5 Stunden auf sich nahm. Er suchte die Gemeinschaft der Glaubensgeschwister. Er war ein begnadeter Pädagoge, der von dem damals üblichen Züchtigungsrecht kaum Gebrauch machte. Er meinte, es sei ein Unrecht, den Kindern die goldene Jungendzeit zu trüben. Er wollte seinen Schülern die Natürlichkeit und Fröhlichkeit erhalten. Bis ins 78. Lebensjahr stand er mit Freuden in der Schulstube. Er war außerordentlich gastfreundlich und verschenkte viel von seinem bescheidenen Besitz. Das trug ihm den Vorwurf eines besorgten Bruders ein: „Du hast eine ‚Lumpenbarmherzigkeit‘“. Er gab die klassische Antwort: „Vor Gott sind wir alle Lumpen!“ Besonders wichtig war ihm das Gebet. Er vertrat die Ansicht, beten könne nicht aus Büchern erlernt werden und gab den Rat: „Sprich auch öffentlich zu deinem Herren und Heiland, wie dein Herz dich treibt – je einfacher, desto besser!“ Ein Biograph würdigte ihn mit folgenden Worten: „Es liegt ein wahrhaft Sonniges über seinem Leben!“

Die Hülbener Stunde im 20. Jahrhundert

Albrecht Kullen (1873-1957)

Sein Sohn Albrecht Kullen (1873-1957) wurde zwar sein Nachfolger im Schuldienst, war auch lebenslang mit der Stunde eng verbunden, hat aber nie am Rednertisch gesprochen. Er begründete seine Haltung mit dem Hinweis auf 1. Korinther 9,27: „Dass ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.“ Er war eine starke, feurige Persönlichkeit, lieber Bauer als Lehrer, vor allem aber ein großartiger Gastgeber. Viele pietistische Geschwister und Angehörige der Großfamilie Kullen hat er beherbergt und beköstigt. Pfarrer Erwin Grötzinger, mit dem er freundschaftlich verbunden war, charakterisierte ihn bei seiner Beerdigung treffend mit dem Hinweis auf Römer 16,23: „Es grüßt euch Gajus, mein und der ganzen Gemeinde Wirt.“

Die Kullens haben sich politisch nie engagiert. Albrecht machte eine Ausnahme. Er war ein entschiedener Gegner des Nazi-Regimes und tat dies auch öffentlich kund. Diese klare Positionierung kostete ihm 1936 sein Lehramt. Unter seiner rauen Schale hatte er ein feines, vom Geist Jesu geprägtes Gemüt. Seinen Angehörigen ist unvergesslich, wie er auf dem Sterbebett sagte: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“

Obwohl Albrecht nicht die Leitung der Stunde übernommen hatte, ging das Gemeinschaftsleben in Hülben weiter. Die Stunde war inzwischen ein Teil des kirchlichen Lebens geworden. Es fanden sich in der Gemeinde Laienbrüder, die bereit waren, die Stunde im gleichen Geiste weiterzuführen. 19 Jahre lang hat Wilhelm Scheu die Stunde geleitet, unterstützt von Jakob Schill

Paul Kullen (1882-1949)

1924 übernahm Paul Kullen (1882-1949), der jüngere Bruder von Albrecht Kullen, die Verantwortung in der Hülbener Gemeinschaft. In seinem äußeren Auftreten war er das Gegenstück seines energischen Bruders, still, freundlich und liebenswürdig. Dennoch gelang es ihm mit Gottes Hilfe die Stunde gegen den Zeitgeist des Dritten Reichs und trotz der Schikanen durch die Nazis weiterzuführen. Bezeichnend für die damalige Situation (1938) ist eine Notiz des damaligen Ortsgruppenleiters: „zu den gemeinsten Volksverrätern und Staatsfeinden rechnen wir mit allem Recht die ganze Sippschaft Kullen-Busch“. Paul Kullen wurde von den Hülbenern in respektvoller Liebe „Herr Paul“ genannt. Nach seinem Tod fragte eine besorgte Hülbenerin: „Wer betet jetzt für da Flecka?“

Franz Schwenkel (1879-1964)

Auf ihn folgte Kirchenpfleger Franz Schwenkel (1879-1964). Pfarrer Wilhelm Busch beschrieb ihn mit folgenden Worten: „Er wurde immer mehr zu einer geistlichen Säule in der Hülbener Stunde und darüber hinaus.“ Er konnte eindrucksvoll von seinen „lieblichen und schweren Erfahrungen mit seinem Heiland reden“. Er gebrauchte oft Beispielgeschichten, damit sich das Gesagte besser einprägt. Unter seinem Nachfolger Hermann Scheu (1898-1975) wurde die Hülbener Stunde 1964 an den Altpietistischen Verband Stuttgart angeschlossen.

Karl Buck (1919-1986)

Neue Impulse erhielt die Hülbener Stunde durch Karl Buck (1919-1986), der seit 1965 die Stundenleitung innehatte. Er führte das Philadelphia-Liederbuch ein; bis dahin hatte man das evangelische Kirchengesangbuch benutzt. Auf seine Anregung geht ferner die Adventstunde zurück, auch wurden die Geburtstage der „Stundenbesucher“ stärker beachtet.

Eberhard Kullen

Eberhard Kullen (1911-2007)

Eberhard Kullen (1911-2007), der einzige Sohn von Albrecht Kullen, übernahm 1986 die Leitung der Stunde. Die äußeren Lebensumständewaren dramatischer als die seiner Vorväter. Da seine Mutter Hildegard kurz nach seiner Geburt starb, entschloss sich sein Vater schweren Herzens, den 10-jährigen Eberhard seiner Schwester Johanna nach Frankfurt/Main zu geben, die dort mit Pfarrer Dr. Wilhelm Busch verheiratet war, um ihn in einer richtigen Familie aufwachsen zu lassen. Eberhard zog erst 60 Jahre später (1981) wieder nach Hülben zurück. Er wurde kein Lehrer, sondern absolvierte nach Abschluss der Schule eine Schlosserlehre, besuchte die Ingenieurschule Esslingen und wurde Eisenbahningenieur. Jahrzehntelang engagierte er sich in der evangelischen Kirche, aber seine eigentlich geistige Heimat blieb die altpietistische Stunde. 43 Jahre lang hat er in Oberesslingen am Brüdertisch gedient. Aber er blieb sein Leben lang mit Hülben verbunden. Regelmäßig besuchte er die Monatskonferenzen und organisierte die große Kirchweihmontag- und Silvesterstunden. Dies wäre übrigens ohne die Mithilfe der Frauen im Alten Schulhaus und der vielen helfenden Hände der Hülbener nicht möglich gewesen. Sein Neffe Pfarrer Hansfrieder Breymayer schrieb über ihn: „Onkel Eberhard hat vorgelebt, was ein Christ ist: Einer, der von Jesus lebt, einer, der zu ihm einlädt, einer, der durch ihn ein offenes Herz und ein offenes Haus für Menschen hat.“

Konrad Gärtner

Von 2001-2008 lag die Verantwortung und Leitung der Hülbener Stunde in den Händen von Konrad Gärtner, der das Kullenerbe in großer Treue weiterführte. Heute wird die Stunde von Siegfried Kullen geleitet, dem ältesten Sohn von Eberhard. Im Schnitt wird die Stunde gegenwärtig von 40 Personen besucht.

Statt eines Nachworts soll das Hülbener Familien- und Gemeinschaftslied den Beitrag beschließen 

„Himmelan, nur himmelan soll der Wandel gehn.
Was die Frommen wünschen, kann dort erst geschehen,
auf Erden nicht. Freude wechselt hier mit Leid.
Richt hinauf zur Herrlichkeit dein Angesicht“.

Prof. Dr. Siegfried Kullen leitet seit 2008 die Hülbener "Stund"