Gemeinde

Joh 10,1-30; 1Kor 12,12-31; Eph 2, 19-22; 1Petr 5,1-4

Ein Stück Himmel auf Erden

So menschlich es in der Gemeinde zugeht, sie ist ein Stück Himmel auf Erden. Warum das so ist? Die Gemeinde, das sind Menschen, die schon Teil von Gottes neuer Welt sind (Heb 12,22f) und deren Leben mit Christus in Gott verborgen ist (Kol 3,3). Sie alle tragen den Geist Gottes in sich. In Eph 1,14 findet sich für die Geistesgabe ein griechisches Wort, das Luther mit „Unterpfand“ übersetzt. Es ist bis heute im modernen Griechisch gebräuchlich und meint den Verlobungsring, also das leibhaftige Zeichen einer gemeinsamen Zukunft, die mit dem Versprechen schon begonnen hat (vgl. Eph 5,32). Das heißt: durch die Gabe des Geistes  haben die Gemeindeglieder schon hier und heute Teil an seiner Gemeinschaft mit dem Vater und Sohn (Gal 4,6; vgl. Joh 14,23).

Die Gemeinde, ein Stück Himmel auf Erden und deshalb unbeschreiblich. Das ist der Grund, warum die Autoren der neutestamentlichen Briefliteratur, allen voran Paulus, ganz unterschiedliche Bilder wählen, um die Gemeinde zu beschreiben. Sie sprechen von der Gemeinde als Leib Christi, als Tempel oder Priesterschaft, als Wohnung Gottes, als Herde oder Acker. Grundsätzlich gilt die Gleichwertigkeit aller, ohne jede Über- oder Unterordnung, ohne irgendeinen geistlichen Vorsprung des einen vor dem anderen, denn jeder Einzelne für sich genommen steht in direkter Verbindung zum und Verantwortung vor Christus, dem Haupt, dem Hirten oder dem Erbauer der Gemeinde.
Gerade die sogenannten Gottesfürchtigen, die damals am jüdischen Glauben Interessierten, verstanden diese Bilder gut. Sie waren bisher als Gäste und Zugezogene behandelt worden. Der direkte Zugang war ihnen verwehrt geblieben - bis zu ihrer Taufe auf Christus. Damit waren sie aufgenommen in die Familie des Vaters im Himmel.

Ist die Gemeinde aber ein Stück Himmel auf Erden, dann ist sie gleichzeitig der Ort, an dem Gott auf dieser Erde Wohnung nimmt. Wer also Gottes Gegenwart sucht, der ist dort, wo sich Christen versammeln, gut beraten (Mt 18,20). Gleichzeitig ist die Gemeinde der Ort, an dem Gottes Kinder Gelegenheit haben, stellvertretend dem Vater im Himmel zu danken und für die Welt zu bitten. Ihr Gottesdienst hier auf Erden ist Teil des Gottesdienstes in der ewigen Welt, auch wenn der Gesang und die Predigt und auch die Gedanken, die abschweifen, bisweilen sehr menschlich sind.  

Die Gnade und die Gaben

So gleichwertig die einzelnen Gemeindeglieder sind, gleichartig sind sie keineswegs. Wie die Glieder an einem menschlichen Körper sind sie verschieden, so hat es Gott gewollt. Jemand sagte: „Wenn wir Wasser gefrieren lassen, dann werden daraus Eiswürfel. Wenn Gott Wasser gefrieren lässt, dann werden daraus Schneeflocken. Und jede Schneeflocke – auch in einem langen Winter – ist etwas absolut Einmaliges und Einzigartiges.“
Das heißt: dass Menschen in einer Gemeinde verschieden sind, das ist Gottes Idee. Wäre es unsere Idee, dann wäre sie tatsächlich ein Anlass zur Trennung. Wir würden uns über der Art des einen und der Gabe des anderen buchstäblich aus-einander-setzen. Weil sie Gottes Idee ist, ist sie ein Ausdruck seiner Phantasie und Schöpferkraft und deshalb ein Grund zur Dankbarkeit und nicht zum Streit.
In dem Moment allerdings, in dem eine besondere Ausstattung zum Anlass wird für Eigenlob und Selbstdarstellung, für Bewunderung oder gar Neid, in diesem Moment geht die Sache schief. Worüber wir uns freuen könnten, wird zum Anlass für Spannungen und Spaltungen. Wer die Gabe eines anderen dagegen richtig einordnet, hilft sie zu überwinden.

Wenn Gott die Glieder einer Gemeinde begabt, dann heißt das:

  • Die Dankbarkeit für das Vermögen eines anderen ist die beste Art, Gott für das Wunderwerk seiner Gemeinde zu loben.
  • Ich muss nicht alles selbst erledigen. Wir können uns das Engagement für Gottes Reich teilen.
  • Gottes Auftrag wird von mir genauso gut erfüllt, indem ich einem anderen helfe, seine Gaben zu entfalten, wie durch den Einsatz meiner eigenen Gaben.
  • Im Gemeindeaufbau ist es der Natur der Gemeinde angemessener zu fragen, welche Gaben Gott unserer Gemeinde geschenkt hat und was wir deshalb tun können statt zu fragen, was wir tun sollten und wer dazu bereit ist. (Denn meistens sind das dann nicht allein die Begabten sondern vor allem die Gutmütigen, die nicht Nein sagen können.)

Die Gabe aller Gaben, die Gnade (charis; Röm 6,23), die uns rettet, hat jeder empfangen, der Teil der Gemeinde ist. Das eint uns. Die eine Gnade aber äußert sich in unterschiedlichen Gaben (charismata), die nur ein Ziel haben: den Dienst, die Fürsorge füreinander und das Zeugnis vor aller Welt (Eph 4,7.11f)

GmbH – Gemeinschaft mit bestimmter Hoffnung

In der Lutherbibel ist das Wort „ein“ in 1Kor 12 fett gedruckt, weil im Griechischen nicht der unbestimmte Artikel „eine, einer, eines“, sondern das Zahlwort „eins“ steht. Es müsste also heißen: ein einziger Geist und ein einziger Leib. Genauso meint Eph 4 einen einzigen Herrn, einen einzigen Gott und Vater, einen einzigen Glauben, eine einzige Taufe und eine einzige Hoffnung. Alle, die Teil der Gemeinde sind, haben also das Grundlegende gemeinsam, das aber ist unteilbar und für alle gleich. Und genau dieses Gemeinsame stiftet die Gemeinschaft, also nicht allein die Sympathie oder gemeinsame Vorlieben oder eine gemeinsame Geschichte, obwohl es schön ist, wenn sie alle dazu kommen.

Deshalb ähnelt die Gemeinde nicht so sehr einem Freundeskreis oder einem Sportclub oder einer Interessengemeinschaft als vielmehr einer Genossenschaft. Wie die Fischer am See Genezareth die Boote teilten, um miteinander Fische zu fangen und mit dem Fang ihre Familien zu ernähren, so teilten sie miteinander die Berufung in die Nachfolge, die Gemeinschaft mit Jesus, den Auftrag als seine Jünger und die Erfahrung seiner Kreuzigung und Auferstehung. Genauso teilen wir mit ihnen die Taufe in seinen Tod, das Geschenk des Ewigen Lebens und die Gabe des Heiligen Geistes. Wir teilen sie mit den Jüngern damals, mit der weltweiten Kirche und mit allen,  die über die Jahrhunderte hinweg an Jesus geglaubt, für ihn gelebt und gelitten haben.

Ganz sichtbar wird diese Teilhabe im Abendmahl, wenn wir äußerlich nur das Brot und einen Becher Wein, im tiefsten Sinn aber Christus und sein Sterben miteinander teilen. Und weil dieser Christus nur einer ist, weil er schon längst da ist, bevor wir Teil der Gemeinde werden, ist die Gemeinschaft in ihm etwas, das wir nicht schaffen, sondern in das wir lediglich hineinwachsen – oder es eben schmerzhaft stören. Denn leider gehört es mit zur Tragik der Kirchengeschichte, dass sich ausgerechnet über dem Verständnis des Abendmahls die Christenheit gespalten hat.
Wie also findet eine Gemeinde über Spannungen wieder zueinander, über Rangeleien, Eifersüchteleien, über Hochmut und Dünkel, wie sie Paulus beschreibt? Nur, indem sie sich auf Christus besinnt, indem sie auf ihn hört und in seine Fußstapfen tritt. Nicht umsonst schließt Paulus an die Frage nach den Störfaktoren in der Gemeinde das große Kapitel über die Liebe an (1Kor 13).    

Gehütete Hirten

Die Frage von Stolz und Überheblichkeit stellt sich wohl vor allem denen, die Verantwortung in der Gemeinde tragen. Gleichzeitig sind gerade sie aufgefordert, ihr Christsein vorbildlich zu leben, vorbildlich nicht allein im Blick auf ihre Lebensführung sondern vor allem im Blick auf ihre Jesusnachfolge.
Dabei sind mit Verantwortungsträgern nicht nur die gemeint, die eine Gemeinde als Ganzes leiten, sondern all jene, die als Eltern und Großeltern, als Hauskreisleiter und Jungscharmitarbeiter, als Seelsorger und Begleiter mit anderen auf dem Weg des Glaubens unterwegs sind.

Wer Menschen auf dem Weg mit Jesus begleiten will, der

  • bindet sie nicht an sich, sondern führt sie zu Jesus hin.
  • sorgt dafür, dass sie bekommen, was sie brauchen, und hilft ihnen, selbstständig im Glauben zu leben.
  • leitet sie an, so dass sie ihre eigenen Gaben entdecken und ihren Platz als engagierte Christen in der Gemeinde finden.
  • weiß für sich selbst und bekennt, dass er selbst einen guten Hirten braucht und selbst noch auf dem Wege ist
  • und hält deshalb die Verbindung in Hörweite (Joh 10,27) zum Prototyp aller Hirten, das nämlich bedeutet das Wort „Erzhirte“.

Denn das Leben in Fülle gibt es nur bei Jesus selbst. Was Jesus seinen Nachfolgern gibt, kann kein Mensch sonst geben. Er beraubt uns nicht und nützt uns nicht aus, sondern gibt sich selbst (Joh 10,10b.11), damit wir einmal mit den Jüngern sagen können: Wir haben nie Mangel gehabt (Lk 22,35; Ps 23,1).

Maike Sachs, Pfarrerin, St. Johann

Text aus dem Magazin "Gemeinschaft" 6/2011