Vom Fasten und Verzichten

Wir stehen wieder in der Passionszeit. Sie war von jeher eine Fastenzeit, um das Leiden und Sterben Jesu in besonderer Weise zu bedenken. Das ist weithin verloren gegangen. Im Gegenteil: Immer mehr Konsum und auch Hektik in allen Lebensbereichen kennzeichnet unsre Zeit. Freilich: In unsren Tagen wird mancherorts das Fasten neu entdeckt, u.a. durch Aktionen wie "Lohnender Verzicht" oder "Sieben Wochen ohne". Wir geben zu dieser Thematik einige Ausführungen von Pastor Kurt Scherer wieder, dem ehemaligen Leiter der Seelsorgeabteilung und stellvertretenden Direktor des Evangeliums-Rundfunks, Wetzlar. (Die Hervorhebungen im Text hat die Redaktion vorgenommen).

Fasten aus medizinischen Gründen ist eine ärztlich anerkannte Heilmethode.
Man spricht von der Operation ohne Messer. Fasten um einer besseren Kondition willen findet heute ebenfalls allgemein Verständnis... "Ein voller Bauch studiert nicht gern", sagt man. Fasten aus Gründen des Glaubens (1.Sam 7,6; 31,13; 2.Mo 34,28; Dan 1,8; 9,2f; Sach 8,19; Mt 4,1ff; Mk 2,18ff; Lk 2,37; 1.Kor 7,5; 9,24ff; Röm 14,21; Apg 13,2f) jedoch ist weitgehend unbekannt: Als Einübung in die Freiheit des Verzichten-Könnens, zu sieghaftem Leben über Zwänge, zu psychischer Hygiene, geistig-moralisch-ethischer Erneuerung, geistlichem Wachstum, zu neuen Erfahrungen mit Gott und/oder mit sich selbst und/oder den Mitmenschen und/oder mit der Schöpfung.

So ungern das viele zur Kenntnis nehmen: Es ist längst an der Zeit, umzudenken und umzukehren, Fasten und Verzichten zu praktizieren. Wir tragen Verantwortung und werden daher zu beginnen haben, uns einzuschränken, wenn das Chaos in allen Lebensbereichen nicht noch größer werden soll. Das betrifft ebenso den Einzelnen wie unsere Großkonzerne. Erneuerung nicht nur von unten, von der Basis her, sondern heute primär von oben nach unten! Freiheit ohne Ziele endet in der Orientierungslosigkeit. Und Individualismus ohne Solidarität schadet dem Gemeinwohl. Haben verpflichtet, zu geben. So steht es schon in unserem Grundgesetz. Diese Notwendigkeit haben viele Zeitgenossen noch nicht begriffen. Jetzt können wir es noch freiwillig tun: Das ist leichter und verschafft sogar das Gefühl einer gewissen Genugtuung.

Fasten und Verzichten als Bereitwilligkeit zum Mit-Teilen und Mit-Leiden ebenso wie zum Anteil-Geben und Anteil-Nehmen beginnt beim Hinterfragen der einzelnen Posten des Einkaufszettels und geht bis zum Kauf eines neuen Autos. Freilich bringt jede Anschaffung Vor- und Nachteile für einen selbst und für andere. Was aber anderen schadet, kann auch für uns nicht gut sein, denn wir sind Teil eines größeren Ganzen.

Kritisch äußert sich die Bibel zum Fasten und Verzichten dort, wo es missbraucht wird. Sie sind keine verdienstlichen Werke. Gotteskindschaft und Heilsgewissheit können nie dadurch erworben werden. Fasten ist auch keine Leistung vor Gott, so dass ich ihn dadurch zu etwas zwingen oder gar von ihm ertrotzen könnte; so eine Art Hungerstreik. Auch fastet niemand in der Bibel, um andere Menschen zu zwingen (Jes 58,1-5; Jer 14,12; 1.Kön 21; Mt 6,16-18; 9,14-17; Lk 18,12). In der Bergpredigt krititsiert Jesus die Heuchler, die beim Fasten und Verzichten sauer dreinsehen, um sich vor den Leuten mit ihrem Fasten und Verzichten (Gutes tun!) zu zeigen (Mt 6,16). Unmittelbar darauf folgt eine klare Anweisung, wie richtiges Fasten aussehen soll. Ausschließlich um ethisches Verhalten geht es. Ob unser Gottesdienst Gott wohlgefällig ist, hängt vom Verhalten des Beters zu seinen Mitmenschen ab.

Fasten und Verzichten bedeutet Mitmenschlichkeit! Wer sich um seinen Nächsten kümmert, indem er Zeit, Kraft, Geld, Liebe, Interesse für die Notleidenden und Zurückgesetzten investiert, der fastet vor Gott wohlgefällig. Jesus hat das unmissverständlich so gesagt: "Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40).

Die wesentlichen Punkte
Fasten und Verzichten bedeutet also mehr als "Essensverzicht". Sie sind eine besondere Segenszeit der Sensibilisierung und zugleich Profilierung unserer Persönlichkeit
- als besondere Zeit des intensiven Mit-Leidens,
- als besondere Zeit des intensiven Mit-Teilens,
- als besondere Zeit, in der Zeichen des Anteil-Gebens und Anteil-Nehmens gesetzt werden.

Fasten, durch freiwilligen Verzicht erprobt und eingeübt,
- dient der körperlichen, seelischen, geistigen und geistlichen Konzentration und Regeneration;
- öffnet das Leben für Gottes Wirken;
- nimmt uns mit hinein ins Leiden Jesu und in seine Auferstehungskräfte;
- ermutigt zu intensivem Gebet und Bibelstudium;
- fordert vollmächtiges Leben,
- schenkt Sieg über Mächte, Gebundenheiten, lästige Gewohnheiten;
- ermutigt zur Verantwortung in Gemeinde und Mission;
- trägt bei zur besseren Bewältigung von leidvollen Erfahrungen und Konflikten;
- überwindet Stimmungen und Launen;
- vermittelt Geborgenheit und Frieden, Zuversicht und Freude;
- führt ins Umdenken, zu neuen Einsichten;
- setzt Prioritäten;
- schafft Raum für neue Möglichkeiten;
- hilft zu klaren Entscheidungen in Verantwortung vor Gott;
- leitet an zu einem alternativen Lebensstil;
- befreit vom Verhaftetsein an Besitz.

Zum Nachdenken
"Alles ist verloren, wenn wir entschlossen sind, auf nichts zu verzichten."
(Professor Dr. C. F. von Weizäcker)

"An welcher Stelle ein heilsamer, freiwilliger Verzicht zu üben ist, darüber stellen wir keine Paragraphen auf. Wir dürfen alles haben, aber die Dinge, die Bedürfnisse, die Wünsche dürfen nicht uns haben. Es ist gut, immer wieder zu prüfen, ob man noch Herr im eigenen Hause ist."
(Professor Dr. Adolf Köberle)
"Persönlichen Wünschen entsagen, einen Lieblingsplan opfern, auch wenn die Selbstsucht sich mit tausend Fingern daran verkrallt, bedeutet nicht Entmannung unseres Wollens, im Gegenteil, die höchste Kraftleistung sittlicher Energie. In einem schweigenden Verzicht liegt in der Regel mehr seelischer Heroismus als in der brutalen Durchsetzung des Egoismus."
(Erzbischof Michael Kardinal Faulhaber)
Das alles gilt nicht nur für unser Tun, es gilt ebenso im Blick auf unser Wort. In einer Zeit pausenlosen Redens ist es geboten, immer wieder die Notwendigkeit des "Wort-Fastens" zu betonen. Wer nicht mit seinen Worten fasten lernt, fördert nicht nur den Verschleiß der Sprache, er verzettelt auch sein Wesen. Es ist eine alte Erfahrung: "Wer weniger redet, hat mehr zu sagen!"

"Ein Mensch, der verzichten kann, ist eine Wohltat für seine Umgebung. Er ist weder Spielball seiner Triebe noch seiner Gefühle. Er ist ein zuchtvoller Mensch, zu dem man Vertrauen haben kann. So stehen Gottesliebe, Mitmenschlichkeit und Verzicht in einem tiefen Zusammenhang untereinander."
(Manfred Seitz)

Fragen zur eigenen Standortbestimmung
- Prägt meine Beziehung zu Gott meinen Lebensstil?
- Kann ich mich an meinem Besitz noch freuen, oder ist der Wohlstand der Weg, auf dem ich Gott verloren habe?
- Kenne ich Verzicht als Selbstdisziplin, durch die nichts zu verlieren oder zu bedauern, aber vieles zu gewinnen ist?
- Begehre ich mehr, reiße ich mehr an mich als ich brauche und verkrafte?
- Bin ich bereit, um eines anderen willen auf Dinge, die ich ohne weiteres mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, zu verzichten, damit dem Betroffenen geholfen wird?

Ich darf mich auf Kosten Gottes verwirklichen!
Wenn wir Christen nicht mehr fasten und verzichten oder es nur aus egoistischen Motiven tun, fällt der Hunger auf die Völker zurück. Sie tragen die Last unseres Versagens.
Der Hunger in der Welt hat einen Hintergrund in der Sünde. Unser Geben muss daher mehr sein als ein bloßes Spenden aus dem Überfluss (obwohl das schon mehr ist, als gar nichts zu geben!); nicht Kollekte, sondern Opfer, sonst bleiben unsere Spenden nur eine Beschwichtigung unseres Gewissens.
Das gewohnheitsmäßige Überschreiten unseres Maßes wird uns im Fasten und Verzichten bewusst. Wir erkennen, wie das Haben-Wollen und die sinnlichen Begierden das innere Licht verdunkeln (Mt 6,16-23).
So kann uns Fasten und Verzichten zu einer Gesamtmäßigung unseres Lebens führen, durch die erst eine gerechtere Verteilung der Güter der Erde möglich wird. Fasten, Beten und Wohltun sind Wesensbestandteile eines Lebens, das Gott gehört.

Pastor Kurt Scherer