Barmherzigkeit

Was zur Grundmelodie werden kann

„Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert..!“ Mehr begeistert als „gepflegt“ tuteten tansanische Bläser auf ihren verbeulten Instrumenten die altvertraute Melodie. Wir von der schwäbischen Synodaldelegation wunderten uns darüber, dieses Hiller-Lied im regenverhangenen Mlalo auf der Höhe des Usambara-Gebirges zu hören. „Ja“, so erklärte uns Friedel Wohlrab, die altgewordene Tochter des ersten Pioniermissionars, „dies Lied wird bei uns gespielt, wenn in einer Hütte ein Kind geboren wurde, wenn ein Hochzeitspaar die Kirche betritt und wenn in einer Familie der Tod eingekehrt ist. Mein Vater hat einst dies Lied, ebenso wie die Posaunen, hierher gebracht. Nun aber ist dies Lied zur Grundmelodie der Christen hier oben geworden!“ Zur Grundmelodie unseres Lebens kann es auch bei uns im Land von Philipp Friedrich Hiller werden: „Nun weiß ich das und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit!“

Was Gott unbändig Spaß macht

Barmherzigkeit ist die hervorstechendste Eigenschaft Gottes (vgl. Neh 9,17+31). Gott hat sich selbst als der „Barmherzige“ vorgestellt und bekannt gemacht (2.Mose 34,6). Ja, es macht Gott unvorstellbaren Spaß, barmherzig zu sein. So hatte es schon der Prophet Jeremia auszurichten: „Es gefällt mir, Barmherzigkeit zu üben“, also Barmherzigkeit zu praktizieren (Jer 9,22.23). Gott tut das sogar mit „Lust“. Jesus hat das zweimal noch deutlicher gemacht, als es schon in dem Wort des Propheten Hosea (Hos 6,6) hätte erkannt werden können: „Gott hat Wohlgefallen an der Barmherzigkeit“ (Mt 9,13; 12,7), so sagte er. Also nicht an Opfern, die wir ihm darbringen, die er von uns bekommt.

Das geht so schwer in den Kopf und erst recht in die Herzen von uns normal gebauten Menschen hinein; denn von Natur aus denken wir „religiös“. „Religion“ besteht nun einmal darin, Gott zu signalisieren: „Ich erkenne dich an! Ich möchte mich bei dir zur Stelle melden.
Ich möchte auch ernsthaft dir etwas erweisen, was dich erfreuen wird. Ich lasse mir das durchaus etwas kosten! Mich sollst du in guter Erinnerung behalten können!“ Ich, ich, ich, mich! Welche Verkennung der Lage! Es muss doch heißen: ER, ER, ER! Er hat seine Freude daran, „ihnen Gutes zu tun“ (vgl. Jer 32,41).

Als jungem Pfarrer passierte mir einmal eine peinliche Panne. Sie geschah beim hektischen Verteilen der Alten-Grüße vom Erntedank-Altar an Bedürftige. Ich hatte eine falsche Adresse für die Besuchsdienstfrau herausgesucht. So bekam ein reicher Ulmer Fabrikant in seine Villa hoch über der Donau ein lieb gemeintes Körbchen überreicht mit zwei Eiern, ein paar Trauben, einem halben Pfund Butter und einer ermunternden Spruchkarte. Prompt kam von ihm ein lieber Brief zurück: „Sie haben sich wohl mit der Adresse vertan. Trotzdem hat mich’s gefreut. Darum sende ich Ihnen beiliegenden Scheck für Ihre Aufgaben in der Gemeinde!“ Und was das für ein hoher Betrag war, auf den der Scheck ausgestellt war! Der freundliche Fabrikant war einer, der es nicht nötig hatte, Barmherzigkeit zu empfangen. Vielmehr war er einer, der in Fülle Barmherzigkeit praktizieren konnte – wenigstens was das Materielle anging.

Gott gegenüber sind wir alle in ähnlicher Lage. Wir sollten nie mehr so tun, als wäre er je auf unser Wohlwollen, auf unsere Liebe, auf unsere Opfer angewiesen. Ich bin doch mehr, als ich wahrhaben möchte, einer, „der unter die Räuber gefallen“ ist. Darum bin ich auf die Barmherzigkeit eines Helfers angewiesen! Wir brauchen den „Nächsten“ Jesus, „der die Barmherzigkeit an uns“ tut (vgl. Lk 10,25-37, besonders die V. 36 und 37). Bevor wir klären und dann auch praktisch drangehen, anderen Menschen Nächste zu werden (bevor wir also „hingehen und desgleichen tun“), sollen wir uns das barmherzige Helfen des Retters Gottes gefallen lassen.

Akut ist unsere und aller Menschen Lage! Dringlich ist sie deshalb, weil der heilige Gott sehnlich darauf wartet, uns mit Lust mit seiner Barmherzigkeit wie mit einem schützenden Mantel umgeben zu können. Der „barmherzige und gnädige“ (vgl. Ps 145,8; Jak 5,11) Gott steht doch schon so lange vor der Tür unseres Lebens und wartet darauf, dass wir unser Leben von seiner Barmherzigkeit erwärmend durchdringen lassen, dass wir ihm Einlass zu uns gewähren. Wir aber sind oft so töricht, dass wir abweisend ihn stehen lassen – nur weil wir meinen, wir müssten ihm etwas Gutes zukommen lassen. Wir verderben Gott das Freudenfest „vor seinen Engeln im Himmel“ (vgl. Lk 15,7.10), wenn wir uns nicht von ihm, dem „Barmherzigen und Gnädigen“ (Ps 86,15) finden lassen. Für Jesus ist es zum Heulen (vgl. Lk 19,41), wenn sich Menschen seinem barmherzigen Beschützen, Erwärmen und Bergen entziehen (vgl. Lk 13,34), das er uns – gleich einer Glucke – gewähren möchte. Johann Christoph Blumhardt hat uns daran erinnert: „Das Einzige, was man sich gefallen lassen muss, wenn man Jesus verbunden sein möchte, ist doch dies, dass man sich seine Wohltaten gefallen lassen muss!“

Das hat Jesus endgültig klar gemacht

Akut ist unsere Lage – unser Bedarf für göttliche Barmherzigkeit! – aber auch deshalb, weil sie in Gottes Augen verzweifelt ernst ist. Es ist kreatürlich verständlich, wenn wir davor unsere Augen verschließen. (Wir rebellieren doch dann schon, wenn wir von der Radarmessung geblitzt wurden: „Das kann doch einfach nicht sein, dass ich so schnell gefahren bin! Das Gerät muss falsch eingestellt sein!“ Oder: „Gerade dann, wenn ich ausnahmsweise auch nur ein einziges Mal mich nicht an das Tempolimit halte, muss da eine Radarfalle aufgebaut sein!“) Dass wir eine übernatürliche Rettungsaktion brauchen, wenn unsere ganze Existenz nicht sinnlos bleiben soll, das mögen wir ahnen. Aber wahr wollen wir es so wenig haben, wie wir es wahr haben und bewusst ernst nehmen wollen, dass wir alle sterben müssen.

Jesus hat es den „Magen herumgedreht“, es hat ihn zutiefst im Innersten „gejammert“, wenn er Menschen in seinen Heilands-Blick bekam, die an Gott krankten, ja, an Gott magersüchtig geworden und für Gott unempfindlich geworden waren (vgl. etwa Mt 9,36; 14,14; 15,32; 20,34). Im Grunde genommen erzählt jeder Bericht von des Erbarmers Jesus Zuneigung zu Kranken, Verzweifelten, Dämonenbesessenen, Trauernden (vgl. Lk 7,13) davon, wie einzelne Menschen Jesus „verbarmt“ haben. Solch ein Blick voll barmherzigen Mitleids traf auch Petrus genau in dem Augenblick, als er sich vermaß, „für Jesus“ sterben zu wollen. Jesus jedoch machte ihm klar: Du hast es nötig, dass ich barmherzig für dich beim Vater eintrete, damit dein Glaube nicht ausdörrt (Lk 22,31ff).

In Jesus hat sich endgültig der Gott zu Wort gemeldet, „der reich ist an Barmherzigkeit“ (Eph 2,4). In ihm ist Gott seinen „verlorenen Söhnen“ und Töchtern entgegengelaufen, weil es ihn ihrer „jammerte“ (vgl. Lk 15,20). Wir (auch wir frommen) Menschen sind auf der falschen Fährte, wenn wir uns vor Gott auf das berufen, was wir „ihm zuliebe“ getan haben. Dagegen sind wir auf dem Weg zum Heil, wenn wir – unsere große Bedürftigkeit erkennend – bitten: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (vgl. Lk 18,9–14)! Beides gehört schon im Alten Testament ganz eng zusammen: Das Erkennen der eigenen Bedürftigkeit und das staunende Gewahrwerden, dass Gott barmherzig ist und dass er so gerne Barmherzigkeit üben möchte (so Jes 53,11+12; besonders Jer 31,34; vgl. auch Hos 6,6 mit Mt 9,13 „lernet!“). Jesus hat das endgültig klar gemacht durch das, was er sagte und erst recht durch all das, was er getan hat. „Wo ist solch ein Herr zu finden, der, was Jesus tat, mir tut?“ Er möchte es an denen tun, die verzweifelt über sich selbst erkennen: „Ich bin nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße“ (Lk 15,19). Ja, es ist schon Auswirkung von barmherziger Jesus-Nähe, wenn Menschen sich selbst in ihrer Bedürftigkeit erkennen.

Jesus hat mit seinem barmherzigen Handeln und mit seinen Worten endgültig das klärend unterstrichen, was eigentlich schon durch Gottes erbarmendes Handeln mit Israel hätte klar sein müssen. Als „barmherzig und gnädig“ hatte dort am Sinai Gott sich selbst vorgestellt (2.Mose 33,19; 34,6). Dabei hat er geklärt: Seine Begnadigungen stehen in keinem vergleichbaren Verhältnis zu seinem zurechtweisenden Strafen (2.Mose 34,7). Bei Gott hat sein Erbarmen mit sündigen Menschen das absolute Übergewicht. So hat es auch Israel immer wieder staunend empfunden; Psalm 103,8-13 (besonders V. 9 und 10) spiegelt das besonders deutlich wider. Und der mächtige Bußpsalm 51 macht deutlich: Gottes erbarmende Güte kann weder durch Gottesdienste noch durch gute Werke herbeigezwungen werden. Gottes Barmherzigkeit hat ihren Grund allein darin, dass ihn die Bedürftigkeit „jammert“ (vgl. Ri 2,18; 10,16). Wessen sich Gott erbarmt, dessen erbarmt er sich (siehe Röm 9,15).

Dabei ist Gottes Barmherzigkeit auf weit mehr aus als auf einen „Gnadenakt“, mit dem die eigentlich fällige Strafe erlassen wird. Paulus hat sich auf Worte und Bilder der alttestamentlichen „Schrift“ bezogen, als er in Röm 9,10ff klar machte: Verglichen mit den zum Verderben bestimmten „Gefäßen des Zorns“ sind die „Gefäße der Barmherzigkeit“ noch einmal etwas ganz anderes! Der ganze „Reichtum göttlicher Herrlichkeit“ wird daran deutlich, wie Gott die Gefäße unseres Lebens füllt mit den Erweisen seiner Barmherzigkeit.
Jedoch noch wichtiger als alle Gnadenerweise ist Gottes barmherziges Zuneigen selbst: „Deine Güte ist besser als Leben“ (Ps 68,4)!

In Martin Luthers „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ ist jubelnd zusammengefasst, was endgültig und darum verlässlich Gott in Jesus auf den Weg gebracht hat: „Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen; er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen. Er wandt zu mir das Vaterherz.....er ließ‘s sein Bestes kosten. Er sprach zu seinem lieben Sohn: ‚... sei das Heil dem Armen... und lass ihn mit dir leben‘!“ Dass Arme wie ich mit Jesus leben können, dass ich ewig in Jesus bleiben kann, darauf ist Gottes Barmherzigkeit aus.

Worauf Gottes Barmherzigkeit aus ist

Natürlich soll Gottes Barmherzigsein abfärben auf Menschen, denen Gottes Barmherzigkeit widerfahren ist: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36). Der Aufruf ist eindeutig: „Geh hin und tu desgleichen“ (Lk 10,37)! Es geht darum, Barmherzigkeit zu „tun“. Das gegen alle Not verschlossene Herz soll auftauen, und die müden Hände sollen zupacken. „Gottes Barmherzigkeit will bis in die hintere rechte Hosentasche hineinwirken“ (Fritz Liebrich), also dorthin, wo der Geldbeutel steckt. Barmherzigkeit soll voll lösungsorientierter Phantasie sein. Es genügt nicht, angesichts eines armen Menschenkindes zu empfinden: „Ach, das arme Hascherl!“ Alles muss vielmehr darauf aus sein: Wie kann nur diesem Menschen aus seiner Not herausgeholfen werden? Was kann ich dazu tun? Es geht dabei um viel. Denn wo die unvergänglichen Worte des Offenbarers Jesus ernst genommen werden (etwa Mt 5,7; 18,33–35; 25,35–46), da ist eben auch in Kraft: „Es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat“ (Jak 2,13).

Aber es geht um mehr als nur um das Hilfeleisten. In seiner „großen Barmherzigkeit“ will der „Vater unseres Herrn Jesus Christus“ in Auferstehungskraft ganz normale Menschen „wiedergeboren“ werden lassen (1.Petr 1,3). In Röm 12,1-2 umkreist Paulus, der Apostel des Jesus Christus (dem vorbildlich-exemplarisch „Barmherzigkeit widerfahren“ war, vgl. 1.Tim 1,12–16, besonders V. 16), die totale Veränderung, welche „Gottes Barmherzigkeit“ auslösen kann und will: Menschen müssen sich nicht mehr selbst gehören. Vielmehr kann ihr ganzes Denken und Empfinden so verändert werden, dass sie voll Freude das Gute, Wohlgefällige, Vollkommene tun. Kurz: dass sie das spontan tun, woran Gott Freude hat. Paulus kann es noch anschaulicher mit dem Bild vom „Anziehen“ eines neuen Gewandes sagen: Wer den Herrn Christus „angezogen“ hat (vgl. Röm 13,14), der zieht damit automatisch „herzliches Erbarmen“ an (vgl. Kol 3,12, ähnlich auch Röm 12,10).

Die „Gnade unseres Herrn Jesus Christus“ will sich darin auswirken, dass die „Liebe Gottes“ Menschen in wahrer „Gemeinschaft des heiligen Geistes“ zusammenfügt (vgl. 2.Kor 13,13). Weil das nicht maschinell-automatisch gegen den inneren Widerstand von Menschen geschieht, sollen sich Christenmenschen nüchtern selbst erforschen und kritisch prüfen, ob „Jesus Christus in ihnen“ wirkt; denn nur dann stehen sie wirklich „im Glauben“, wenn sie nicht „zu allem guten Werk untüchtig“ sind (vgl. 2.Kor 13,5 mit Tit 1,16). Denn von denen, die aus „Gnade“ gerettet wurden, gilt schließlich: „Wir sind ... geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen“ (Eph 2,9+10). Das lässt keinen Selbstruhm zu (vgl. Eph 2,9). Vielmehr bleibt es dabei: „Ich beuge mich und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit!“

Prälat i.R. Rolf Scheffbuch