Galater 5, 1-15

Wahre Freiheit

Das fünfte Kapitel im Galaterbrief hat eine Scharnier-Funktion. Auf der einen Seite wird das Thema der bisherigen Kapitel zuspitzend zusammengefasst. Die Christen sind frei von der Forderung, mit dem „gelebten Leben“ – das meint der Begriff „Gesetz“ – zu der bedingungslosen Annahme bei Gott durch Christus etwas beitragen zu müssen.
Auf der anderen Seite öffnet Paulus den Blick auf die Abschlussverse, nämlich zu entdecken, dass die von Gott geschenkte Freiheit nun nicht willkürliche Beliebigkeit zum Ziel hat, sondern die Freiheit zur Liebe, die den anderen annimmt und sich für ihn einsetzt.

1. Die Freiheit von ...
1.1. Es geht um das Fundament
Die Schärfe, mit der Paulus hier spricht, nimmt erst einmal den Atem und kann erschrecken. Wo ist die Weite, mit der er schreiben konnte: „Darum bin ich allen alles geworden“ oder im Streit um den Genuss von Götzenopferfleisch: „Lasst uns nicht einer den anderen richten“?
Nein, Paulus schießt nicht über das Ziel hinaus. Doch es geht hier nicht um eine vielleicht wichtige Frage des Glaubens. Da hatte Paulus eine so erstaunliche Weite. Hier geht es um das Zentrum: Wie komme ich in Kontakt mit Gott? Wie komme ich mit Gott ins Reine? Und da darf es keine Unklarheit geben, darum formuliert Paulus so unmissverständlich wie möglich.
“Denn ihr alle seid durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus“ (3,26). Hier ist das „sola gratia“ der Reformatoren verankert. Es ist Gottes Gnade allein, die uns zu Gottes Kindern macht. Allein, ausschließlich, ohne „und“, „wenn und aber“.
Was auffällt: In vielen Fragen des Glaubens konnte Paulus eine große Weite aufzeigen. Wenn es aber um das Fundament ging, war seine Sprache so klar, damit auch abgrenzend, wie irgend möglich. Bei uns ist es oft umgekehrt. Bei den alles begründenden Glaubensfundamenten – „allein Christus, allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Schrift“ - lässt man auch in frommen Kreisen oft eine seltsame Offenheit und Unschärfe zu. Scharf wird es, wenn es um die Nebensachen, um das „Und“ geht. Bei Diskussionen über Ökumene, Taufe, Gemeindeverständnis, Ethik, die rechte Bekehrung, Formen von Frömmigkeit oder Musikstile wird es bei uns meist heftig bis zum Aufkündigen der Gemeinschaft.

1.2. Das verhängnisvolle „Und“
Die Situation damals: Wenn Paulus eine Gemeinde gegründet hatte und weiterzog, dann ging es nicht lange, bis „Gegenmissionare“ an die Türen der Gemeinde klopften. Ihre Botschaft: Natürlich sei dem lieben Bruder Paulus zuzustimmen, dass es um Jesus und Gottes Gnade gehe, nur dürfe man nicht über das Ziel hinausschießen. Denn zum Vertrauen auf die Annahme durch Gott gehörten doch unbedingt andere Punkte, an denen sich die Echtheit des Glaubens erst zeige, so die Beachtung des mosaischen Gesetzes, vor allem die Beschneidung und die Speisegebote. Kurz gesagt: „Christus - ja, und...“.
Die Situation heute: Die Gefahr ist unverändert groß, dass sich in der christlichen Gemeinde oft ganz fromm und mit den besten Absichten manches „Und“ bei den Fundamentaltatsachen des Glaubens einschleicht und einnistet. Sicher gelte das „Allein“, aber dann doch auch „Und“: und die richtige Taufe, und die richtige ethische Einstellung, und die richtige Bekehrung, die Zugehörigkeit zur richtigen Gemeinde, der glaubwürdige Lebensstil und, und, und.

1.3. Die Gnade verlieren
Christus zu verlieren, das ist keine Strafdrohung nach dem Motto: „Wenn du das oder jenes tust, dann fliegst du raus.“ Es ist die Beschreibung dessen, was faktisch passiert: Wenn zu dem, was Christus getan hat und schenkt, noch irgendeine weitere Forderung gestellt wird, dann geht alles verloren. Denn dann gilt nicht mehr „Lass dir an meiner Gnade genügen...“ (2.Kor 12), sondern die Frage: Glaubst du genug? Lebst du perfekt genug? Machst du es richtig? Dann zählt nicht mehr allein, was Christus getan hat, sondern dann entscheidet letztlich, was wir tun. Dann ist das neue Leben keine Wirklichkeit mehr, die „in Christus“ gilt, sondern dann will man es selbst können und in der Tasche haben. Da ist man dann „aus der Gnade gefallen“ (V. 4) und wieder auf das gelebte Leben fixiert, die „Werke“ und den verzweifelten Versuch, sich selbst den Weg zu Gott erarbeiten zu wollen. Das aber ist das Gegenteil der „erhofften (geschenkten) Gerechtigkeit kraft des Geistes und durch den Glauben“ (V. 5).
In einem Bild gesprochen: Kein Mensch ist anatomisch zum Fliegen geeignet. Menschen fliegen nicht. Fliegen „kann“ unsereins nur im Flugzeug. Wenn nun einer über dem Atlantik auf die Idee käme, auszusteigen in der Einbildung, das mit dem Fliegen selbst zu schaffen, würde er umgehend bemerken, dass diese Freiheit, fliegen zu können, absolut nur „im Flugzeug“ gegeben ist.
Die Freiheit, von Gott als Sohn oder Tochter angenommen zu sein, ist ein Geschenk der Gnade. Sie gilt „in Christus“ allein. Wer dazu ein „Und“ setzt, eine weitere Bedingung, der gleicht dem, der in 10 000 Metern Höhe aus dem Flugzeug aussteigt. Er „fällt aus der Gnade“. Dann hat allein sein gelebtes Leben Gewicht und wird ihn zum Absturz bringen. Der Glaube an Christus bedeutet – in diesem Bild gesprochen - keine Zusatzbedingung, die dann doch als Zusatzleistung zu erbringen wäre. Glauben ist lediglich der Entschluss, ins Flugzeug einzusteigen und sitzen zu bleiben im Vertrauen, dass es mich über den Abgrund hinüber ans Ziel bringt. „Glaube ist der Entschluss, die Abhängigkeit von Gott als Glück zu bezeichnen“ (Hermann Bezzel).
„Lasst euch diese Freiheit von nichts und niemand rauben, sonst verliert ihr alles“, will Paulus der Gemeinde ins Herz brennen. Diese Aufforderung, auch in ihrem warnenden Ton, hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Gerade die, die „die mit Ernst Christen sein wollen“, sind hier gefährdet. Denn die Ernsthaftigkeit des Glaubens, die Liebe zu Christus muss doch eindeutig sichtbar werden, manchmal sogar messbar, so meinen viele. Und dann möchte man als Gemeinschaft Glauben leben. Wie schwer ist es aber, die Vielfalt der Charaktere und Gaben (die Gott schenkt!) und die daraus folgenden vielfältigen Formen, die Beziehung zu Gott zu leben, zuzulassen und nicht viele zusätzliche „Und-Forderungen“ aufzustellen. „Nirgends wird die Gefahr des Gesetzes größer, als wenn wir unsere Nachfolge Jesu mit anderen gemeinsam gestalten wollen“ (Erich Schnepel).

2. Die Freiheit zu ...
Paulus öffnet nun den Blick dafür, dass die „Freiheit eines Christenmenschen“ nicht nur eine Freiheit „von“ ist, sondern zugleich eine Freiheit „zu“: zu einem Glauben, der in der Liebe tätig ist (V. 6); der nicht das alte Ego nun auslebt („dem Fleisch Raum geben“), sondern „durch die Liebe“ einander dient, den Nächsten liebt wie sich selbst (V. 13f); der auch den, der so ganz anders ist, als Christ anders denkt und lebt, „leben lässt“ (V. 15). Da das dann ab V. 16 ausführlich behandelt wird, soll uns hier nur noch eine Frage beschäftigen: Werden nun nicht doch „durch die Hintertür“ weitere Bedingungen des Glaubens, das „Und“ neu eingeführt? Nein, Paulus will nur dem Missverständnis wehren, als bedeute die Annahme bei Gott allein aus Gnade um Christi willen, dass das „gelebte Leben“ für einen Christen keine Rolle spiele. Er beschreibt damit jedoch nicht eine Zusatzbedingung des Glaubens, sondern die unausweichliche Folge dessen, wie Christus, wenn ein Mensch zum Glauben gefunden hat, dessen Leben dann verändern wird.
„Weil denn die Werke niemand fromm machen, aber der Mensch zuvor fromm sein muss, ehe er wirkt, so ist es klar, dass allein der Glaube aus lauterer Gnade, durch Christus und sein Wort, die Person ... selig macht und dass kein Werk, kein Gebot einem Christen zur Seligkeit not ist; dass er vielmehr von allen Geboten frei ist und aus lauterer Freiheit alles umsonst tut, was er tut, in nichts damit seinen Nutzen oder seine Seligkeit sucht – denn er ist ja schon satt und selig durch seinen Glauben und Gottes Gnade – sondern nur, um Gott darin zu gefallen“ (M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen).

Fragen zum Gespräch:

  • Wo sind die konkreten Diskussions- oder Streitpunkte in unserer Gemeinschaft? Geht es um die Mitte oder eigentlich um Einschätzungs- oder gar Geschmacksfragen?
  • Umgekehrt: Wo sind wir in Gefahr, um des lieben Friedens willen zu schweigen, wo Einzelnen oder einer Gemeinschaft als Ganzes die Mitte aus dem Blick zu verlieren droht?
  • Wo wird in unserer Gemeinschaft die Lehre und der Austausch über die Fundamente des Christseins praktiziert und das „Basiswissen alltagstauglich“ nicht nur stillschweigend vorausgesetzt? „Der Glaube wächst und wird erhalten dadurch, dass mir gesagt wird, warum Christus gekommen ist, wie man ihn gebrauchen und genießen soll, was er mir gebracht und gegeben hat“ (M. Luther).

Pfarrer Karl-Hermann Gruhler, Balingen-Endingen

Impulse zur Veranschaulichung für Erwachsene und Kinder:

  • Zu Vers 1 können in der Geschäftsstelle Postkarten angefordert werden, in die zur Veranschaulichung noch ein Stück Schnur durchgezogen wird.
  • Vielleicht kann jemand mit den Kindern zusammen eine eigene kleine Gebetsgruppe bilden? Anregungen dazu gibt es im Internet unter www.ead.de/gebetswoche/archiv/2002/kinder.htm