Nehemia 9, 1-37

Nimmst du mich noch einmal an?

Das ist die beherrschende Frage des gesamten Volkes, die hinter dem langen Bußgebet steht. Wie oft hat Gott seinem Volk Israel schon vergeben? Wie oft bekam es eine neue Chance, einen Neuanfang in der Beziehung zu seinem Gott, und wie oft hat es sich trotz der Treue Gottes wieder von ihm abgewandt. Und nun? Wieder und immer noch seit der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. steht Israel unter Gottes Strafgericht. Doch gibt es kleine Besserungen der allgemeinen Lage, Anzeichen und erste Früchte einer Aufwärtsbewegung: Der Tempel konnte wieder gebaut und 516 neu eingeweiht werden; Nehemia wird 445 v. Chr. zum Statthalter der Provinz Judäa ernannt, wodurch Judäa wenigstens wieder eine eigenständige Provinz wurde, während es bis dahin Teil der Provinz Samaria war; der Wiederaufbau der Stadtmauer machte die neue "Erhöhung" Jerusalems zur Provinzhauptstadt sichtbar und gab Sicherheit und neues Selbstbewusstsein; durch Esra und Nehemia kam es zu inneren Reformen im Volk und zur Neuausrichtung an Gottes Geboten.
Die große Frage angesichts dieser positiven Veränderungen blieb: Hat Gott die Schuld, die zum Verderben führte, vergeben oder waren es alles eigenmächtige Schritte charismatischer Führer? Ist die zu spürende Aufwärtsbewegung solide oder nur ein kurzer Ausreißer, den Gott wieder korrigieren wird? Wird die Hinwendung zu Gott und seinen Geboten beständig sein oder nur ein kurzes Strohfeuer?

Zur Buße durch Gesetz und Lobpreis
Interessanterweise werden hier zwei Vorgänge genannt, die die Israeliten zur Erkenntnis ihrer Schuld und zur Bitte um Vergebung führten. Zunächst das Verlesen des Gesetzes: Das Gewissen muss an den Geboten Gottes geschärft sein, damit es zur Einsicht von Schuld kommt. Das Gewissen an sich ist nicht Gottes Stimme, es wird von verschiedenen Seiten beeinflusst und bestimmt: durch Erziehung, durch kulturelle und allgemeine moralische Überzeugungen. Wenn es an Gottes Geboten ausgerichtet und orientiert ist, kann es uns zur Buße leiten.
Das zweite, was zur Umkehr und zum Bekennen der Schuld führt, ist das Lob Gottes. Das Gebet in unserem Abschnitt ist Antwort auf die Aufforderung zu einem Lobgebet (V. 5). Die Anbetung Gottes, das Lob seiner herrlichen Taten, seiner Liebe, Geduld und Barmherzigkeit führt zur Erkenntnis eigener Schuld und zur Bitte um Vergebung.
Pfarrer Martin Hirschmüller, Ostfildern-Ruit