Nehemia 13, 1-31

Der eine Gott und die multikulturelle Gesellschaft

Genau betrachtet sind wir Heidenchristen ja die Nachfahren der hier abgewiesenen Moabiter und Ammoniter. Wenn wir aus ihrer Sicht den Text hören, dann müssten wir doch eigentlich entsetzt sein: "So ein intoleranter, engstirniger, fast rechtsradikaler Gouverneur!"
Nehemia wirft Menschen, womöglich "Asylanten", aus dem Tempel heraus, er verprügelt einheimische Männer, die sich mit ausländischen Frauen einlassen, er droht den ausländischen Geschäftsleuten mit schwerem Polizeieinsatz, nur weil sie sich am Sabbat "demonstrierend" zu einer Sitzblockade vor dem Stadttor niedergelassen haben. Er macht die Stadt Jerusalem und die jüdische Gesellschaft "dicht" vor allem Fremden und Ausländischen. Er macht - im doppelten Sinn des Wortes - das Tor zu (Neh 13,19)!

Ist Nehemia ausländerfeindlich?
Eines dürfen wir nicht vergessen: Nehemia lebt ja auch als "Ausländer" am persischen Hof. Er ist nur kurze Zeit zu Besuch in Jerusalem als Abgesandter des persischen Königs. Er kennt die Situation, als Fremder im fremden Land zu sein. Wenn man genau hinsieht, erkennt man: Nehemia geht es nicht im Entferntesten um die Verfolgung oder Vernichtung irgendeiner Rasse. Er "klatscht" keine Ausländer. Er will den Fremden auch in keinster Weise ihre Rechte nehmen. Es gab ja im ganzen alten Orient kein Volk, das ausländerfreundlichere Gesetze hatte als das Volk Israel (2.Mo 23,9; 3.Mo 19,33+34; 24,22 u.a.). Bestehende Mischehen werden ja nicht aufgelöst, und die Ausländer müssen auch nicht das Land verlassen. Nichts gegen die multikulturelle Gesellschaft! Aber alles gegen ein multikulturelles Herz!

Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott!
Die Bereiche des Geschäfts- und Liebeslebens sind ja oft Herzensangelegenheiten. Gerade hier gibt es die Gefahr der vielen Kompromisse und der geteilten Herzen. Deswegen lässt Nehemia das Tor herunter, setzt Grenzen: Nicht gegen die Ausländer geht es dabei, sondern gegen die Halbherzigkeit der Gottesliebe innerhalb des Volkes Gottes, gegen deren Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen..."(5.Mo 6,5) Nehemia drängt zur Entscheidung: entweder - oder! Wenn Liebe echt ist, dann ist sie auch heiß und setzt auch Grenzen! Ich kann nicht Gott lieben und den Mammon. Jeder Mensch hat nur ein Herz, und deswegen kann es auch nur für einen schlagen!

Die Christenheit war schon längst eine multikulturelle Gesellschaft, ehe dieser Begriff überhaupt erfunden wurde. Aus vielen Kulturen, Sprachen und Rassen heraus haben Menschen zusammengefunden in dem einen Christus, der alle Grenzen überschritten hat, auch die Grenzen des Himmels und der Hölle, "dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters" (Phil. 2,10+11).

Fragen zum Gespräch:
· "Die Kirche ist für alle da, aber nicht für alles!" Was könnte dieser Satz konkret für unsere Gemeinschaft bedeuten?
· Wie soll die Gemeinde Jesu im Angesicht des Gekreuzigten mit Fremden und Ausländern umgehen?

Pfarrer Rainer Köpf, Satteldorf