Nehemia 12, 27-47

Die Mauer ist dicht, aber die Tore stehen weit offen!
Der Begriff "Mauer" löst beim Menschen oft negative Gefühle aus: Man denkt an Gefangenschaft, Intoleranz, Abschottung, Feindschaft und Krieg. Und doch kann der Mensch ohne Mauern nicht leben. Ob es natürliche oder künstliche Mauern sind, er braucht sie, damit er Schutz, Heimat und Frieden findet. Er kann nicht nackt auf dieser Welt sein (1.Mo 3,21).
Als die ersten Juden nach ihrer Befreiung aus dem babylonischen Exil in die Stadt Jerusalem zurückkehren, da "liegen die Mauern zerbrochen" (Neh 1,3) darnieder. Das ist nicht nur ein äußeres "Wohnungsproblem", sondern auch ein inneres. Die zerbrochenen Mauern sind ein Bild für die geistliche Krise, in der sich die Heimgekehrten befinden (Neh 1,5-11), für ihre Unbehaustheit - äußerlich und innerlich. Die geistliche Heimatlosigkeit beantworten die Menschen damals - ähnlich wie heute - mit einem individualistischen Rückzug ins Privatleben. Man sucht das kleine Glück, statt gemeinsam ans Werk zu gehen und die gemeinsame Stadtmauer wieder aufzubauen, den gemeinsamen Gott, die gemeinsame Heimat wieder zu suchen.
Nehemia, der Mundschenk des persischen Königs in Susa, leidet an der Situation seiner Landsleute. Er lässt sich mit königlichen "Briefen" ausgestattet als Beauftragter für den Mauerbau nach Jerusalem entsenden (Neh 2). Nun ist er am Ziel seines Auftrages. In einer festlichen, von viel Musik und Gesang geprägten Feier wird die neue Stadtmauer eingeweiht. In einer Art "Sternmarsch" ziehen Chöre, Saitenspieler, Trompeter, Priester und Ratsherren von außen durch die geöffneten Tore hinein in die Stadt zum "Hause Gottes" und feiern dort ein großes Fest - ähnlich wie beim Ulmer Landesposaunentag: Vom Äußeren kommt man zum Inneren - nicht nur räumlich, sondern auch geistlich - und dort "wird Freude sein!" (vgl. Luk 13,29; 15,10).

"Sie waren fröhlich, denn Gott hatte ihnen eine große Freude gemacht!" (V. 43a)
Das erste Mal, dass in der Bibel Gemeindegesang erwähnt wird, ist unmittelbar nach der Rettung des Volkes Israel von den Ägyptern am Schilfmeer. Als Israel befreit von den Verfolgern am anderen Ufer steht, haut Moses Schwester Mirjam im wahrsten Sinne des Wortes auf die Pauke und ruft: "Lasst uns dem Herrn lobsingen, denn er hat eine herrliche Tat getan!"(2.Mo 15,21). Ein großer Gemeindegesang bricht los! Die Kinder Israels hatten erlebt, wie Gott das Wasser des Schilfmeeres zu einer "Mauer" (2.Mo 14,22) hatte werden lassen, einer Mauer zwischen Tod und Leben, und wie er sie - wie durch offene Tore hindurch - ins Leben geführt hatte. Sie hatten Heimat und Freiheit hinter dieser Mauer gefunden und waren dabei fröhlich geworden. Diese grenzüberschreitende Erfahrung konnte dann auch nur die Grenze des Sprechens überschreitend, eben singend ausgedrückt werden.
Ähnliches geschieht im Neuen Testament: Als Petrus bei seiner Pfingstpredigt davon erzählt, dass Jesus die Mauer des Todes durchbrochen hat, dass er die Türen ins ewige Leben weit geöffnet hat, da "bricht" seine gesprochene Predigt mehr und mehr in einen Lobgesang auf (Apg 2,25-28).
Wenn Menschen heimfinden zu Christus, dem "Hause Gottes", und erleben, dass bei ihm die Mauer zum Tod hin dicht ist, dann werden sie fröhlich.

"...und man hörte die Freude Jerusalems schon von ferne" (V. 43c)
Glauben macht Singen und Singen macht Glauben (Kol 3,16+17). Ganz treffend sagt das Martin Luther: "Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst gläubet, der kann's nicht lassen. Er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen."
Die Mauer zum Tod hin ist dicht, aber die Tore hinein zum Leben stehen weit offen in Jesus Christus. Das soll alle Welt hören!

Fragen zum Gespräch:
· Es fällt die geordnete "Zeremonie" im Text auf. Bei aller Skepsis gegenüber Formalismus: Braucht es nicht auch in unseren christlichen Gemeinden geplante, feierliche Inszenierungen, in denen sich unser Glaube darstellt und ausdrückt - oder müssen wir alles dem Heiligen Geist überlassen?
· Wie können wir Veranstaltungen musikalisch, feierlich und ansprechend gestalten, damit Menschen davon "hören und herzukommen"?

Pfarrer Rainer Köpf, Satteldorf