Wachsamkeit

„Wachet und betet“ – jetzt endzeitlich leben und glauben

 

„Leben wir in der Endzeit?“

So fragen Christen nicht erst seit dem 11. September 2001 und dem 11. März 2011. Terroristische Anschläge, Fukushima, weltweite politische und wirtschaftliche Krisenherde, Kriege, das sich ständig vergrößernde Ozonloch, unaufhaltsam wachsende Wüstenflächen und nicht abreißende Naturkatastrophen lassen Christen immer wieder fragen: „Steht das unmittelbare Ende der Welt bevor? Ist Gottes Weltenuhr abgelaufen?“

Berechtigte Frage

Warum rufen solche Ereignisse diese Fragen hervor? Biblische Texte leiten dazu an, auf solche Geschehnisse zu achten, sie als Zeichen des nahenden Endes zu beachten: „Wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist.“ (Lk 21,31) bzw. „dass er nahe vor der Tür ist“ (Mt 24,33). Wer so fragt, darf nicht vorschnell der sündhaften Neugier verdächtigt werden. Er nimmt ernst, dass Gott und das Geschehen in der Welt etwas miteinander zu tun haben. Gott hat die Welt geschaffen, er wirkt in ihrer Geschichte (wenn auch oft sehr verborgen) und er wird sie vollenden. Jesus redet im Blick auf Verführungen, Irrlehren, Krieg, Erdbeben, Hunger, Verfolgung, Gesetz und Lieblosigkeit von „Zeichen“ der Nähe des kommenden Endes. Selbst ein so nüchterner Christenmensch wie Martin Luther ist davon ausgegangen, dass sich die Welt schon in den Wehen der Endzeit befinde, ja, dass das Weltende unmittelbar bevorstehe. Zu diesem Urteil führten ihn die biblischen Texte und die Wahrnehmung der Entwicklungen seiner Zeit: Kriegsgefahr, Bedrohung durch die Türken, die Irrlehren in der damaligen katholischen Kirche samt dem Treiben des Papstes usw.

Nicht berechnen, wachen

Zuweilen lassen sich manche Christen dazu verleiten, bestimmte Ereignisse vorschnell mit biblischen Worten zu identifizieren und das Weltende genau zu berechnen. Endzeitspezialisten deuten Worte aus den Endzeitreden Jesu, einzelne Bilder und Gesichte der Offenbarung eindeutig auf bestimmte Ereignisse der Kirchen- und Weltgeschichte. Damit aber verkennen und missachten sie die verhüllende und bildhaft verschlüsselnde Redeweise biblischer Apokalyptik.

Alle Versuche, das Weltende zu errechnen, wurden immer durch die Tatsachen überholt und als falsch erwiesen. Demgegenüber respektiert ein verantwortlicher Umgang mit dem biblischen Wort grundsätzlich, dass wir in und mit den biblischen Texten kein Mittel an die Hand bekommen, das Weltende zu berechnen: „Von dem Tag aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor, wachet! denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“ (Mk 13,32f.) Jesus zielt mit seinen Worten jeweils auf das „Wachen“ in der Gegenwart. Die Zeit zu beurteilen bindet uns hier und jetzt positiv an Jesus und seinen Willen. „Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten.“ (Lk 12,35f.) Wachen heißt, jetzt auf ihn ausgerichtet leben und sich nicht von ihm wegführen lassen: „Seht zu, lasst euch nicht verführen.“ (Lk 21,8); „Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht.“ (Lk 12,43) Wer ihm treu nachfolgt und in seinem Sinne handelt, der wacht, der nimmt Jesu Endzeitworte ernst.

Die mit der Auferweckung Jesu angebrochene Endzeit

Die ersten Christen waren von der Gewissheit durchdrungen, in der Endzeit zu leben. Ihre Überzeugung gründete aber weniger auf den oben angedeuteten „Zeichen“, also auf Ereignissen ihrer Zeit, als vielmehr auf dem Tod Jesu am Kreuz, seiner Auferweckung an Ostern und der Gabe des Heiligen Geistes (vgl. Apg 2,14ff.). Mit diesen Machttaten hat Gott die alte Welt, die vom Tod und von der Sünde gezeichnet war, endgültig überwunden und einen neuen Anfang gesetzt. Die neue Welt Gottes ist schon in die alte eingebrochen, sie ist schon da und nicht mehr nur zukünftig. Wer im Glauben an Christus Anteil gewinnt, der hat bereits jetzt Anteil am neuen Äon: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2Kor 5,17)
Und doch, wie es beim einzelnen Christen das Neue nicht ohne das Alte gibt, ohne die Auseinandersetzung zwischen dem neuen und dem alten Menschen, so ist es auch in der ganzen Welt. Der Tod und das Böse sind zwar endgültig besiegt, aber noch nicht vollständig entmachtet. Die Entscheidungsschlacht ist zwar geschlagen, Nachhutgefechte aber stehen weiter auf der Tagesordnung. Wachen heißt, auf die vollständige Durchsetzung der Herrschaft Gottes mit und bei der Wiederkunft Jesu in Macht und Herrlichkeit warten, sie ersehnen: „Erlöse uns von dem Bösen!“ So anhaltend und inständig Gott zu bitten, das heißt „wachen“ und unsere Zeit als Endzeit wahr und ernst zu nehmen.

Ausrichtung auf Christus – jenseits von Optimismus und Pessimismus

Worin besteht nun der Nutzen dieser Sicht? Sie verleiht den Christen eine grundlegende Orientierung bezüglich Welt und Geschichte. Sie halten es nicht mit denen, die trotz allem optimistisch davon ausgehen, dass die Welt immer so weiter läuft wie seither, dass wir Menschen schon alle Probleme in den Griff bekommen werden und besseren Zeiten entgegengehen. Im Gegenteil, zu wachen bedeutet, sehnlichst auf Jesus zu hoffen, der Recht schaffen wird, der endgültig von Not und Bedrängnis befreien wird, der einen neuen Himmel und eine neue Erde heraufführen wird, wo es kein Leid und keine Tränen mehr geben wird. Mit dem Zustand der jetzigen Welt finden sie sich nicht einfach ab, sie seufzen vielmehr mit der leidenden Kreatur und hoffen auf die allumfassende Erlösung durch Gott selbst. (Röm8,18ff.) Sie verfallen aber auch nicht einem Pessimismus, der alles für verloren hält, der die Erde ihrer vollständigen Zerstörung entgegeneilen sieht, wo wir nur noch fatalistisch oderängstlich der Dinge harren könnten, die da kommen sollen. Christen vertrauen auf den Gott, der seine Schöpfung auf die Erlösung hin erhält. Sie rechnen damit, dass das Tun des Guten auch zu relativen Verbesserungen im Leben führen kann und immer wieder wird, weil es Gott als der Segnende wieder und wieder so geschenkt hat. Christenmenschen beschleunigen nicht das Vergehen der Welt oder schauen ihm womöglich sogar schadenfroh zu. Wachen heißt: sich einsetzen für alles Gute und für die Erhaltung der Schöpfung. Jesus spricht zu seinen Jüngern nicht vom nahen Ende, damit diese es möglichst schnell herbeiführen. Wir sollen nicht auch noch Öl ins Feuer gießen! Es heißt: „wenn ihr seht, dass dies alles geschieht ...“ nicht aber: „führt das herbei“. Christen lassen sich in ihrem Tun vom Auftrag ihres Herrn bestimmen, nicht von der Lage der Welt, nicht von dem, was geschieht und geschehen wird. Blanker Optimismus wie auch nackter Pessimismus schließen sich für Christen aus. Sie urteilen nicht vom Zustand der Welt her. Von der Welt und ihrer Geschichte her lässt sich nämlich weder mit Sicherheit sagen, dass sie immer weiter bestehen wird noch dass sie vollends zugrunde gehen wird. In der Geschichte der Menschheit wurden vielfach gute durch schlechte Zeiten abgelöst. Andererseits ist der Lauf der Welt nicht bloß durch ständigen Niedergang und zunehmenden Verfall gekennzeichnet. Christen urteilen von der Mitte der Zeit her, von dem her, was Gott in Jesus Christus bereits getan hat und was er damit zugesagt hat. Ungehindert lieben Jesus gewährt einen heilsamen Ausblick: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lk 21,28) Christen sehen die Welt und ihre Geschichte realistisch. Ihre Erwartung lassen sie durch nichts, auch nicht durch ängstigende Ereignisse der Endzeit, von Christus weglenken. Sie wachen, indem sie auf die Vollendung der Gemeinschaft mit Jesus Christus und die Vollendung der Welt durch Gott sehen. Jesus hat die Seinen in eine tiefe Gemeinschaft der Liebe mit sich und Gott aufgenommen.

Gott sorgt für euch, selbst ein Sperling ist vor Gott nicht vergessen; der Heilige Geist wird euch in den entsprechenden Situationen die Worte eingeben, mit denen ihr Christus bezeugen und euch verantworten könnt. Wer mit anderen das Evangelium teilt, ihnen in der Liebe Jesu begegnet, der versteht die Endzeitworte richtig, der wacht.

Apokalyptische Texte vermitteln nämlich kein Geheimwissen über den genauen Verlauf der Welt. Sie geben keinen exakten Fahrplan an die Hand. Aber sie öffnen die Augen für den geschichtlichen Weg der Gemeinde Jesu und für die Gefährdungen, denen sie ausgesetzt sind. Sie tun das, indem sie idealtypisch, modell- und beispielhaft vom Kommenden reden. Dieses Reden ist geleitet von den bereits gemachten Erfahrungen in der Geschichte Israels.Die Versuchung, von Gott abzufallen, das erste Gebot zu übertreten, den Glauben fahren zu lassen, diese Versuchung widerfährt den Glaubenden zu allen Zeiten in ähnlicher Weise. Daher spielt der in den alttestamentlichen Texten aufbewahrte Erfahrungsschatz in den neutestamentlichen „Endzeitreden“ und in der Offenbarung eine so große Rolle. Der Glaube war damals und ist heute gefährdet durch konkrete Geschehnisse, Erfahrungen und Widerfahrnisse in der Zeit. Das sollten wir nicht vergessen, auch nicht durch eine idealisierende Rede vom Glauben, als seien wir als Glaubende nicht bleibend versucht und angefochten.

„Wachet“, diesen Zu- und Aufruf brauchen wir Christen doch wohl, sonst würde er nicht ständig wiederholt werden. Wir wissen zwar nicht, wann Christus wiederkommt, aber dieses Nichtwissen weist uns ins wahrhafte Wachen ein: „Einen Tag [den der Wiederkunft Christi] hat uns Gott verborgen, damit wir auf alle Tage acht geben.“ (Augustin,354-430)

Ganz ausgerichtet auf Gott

Was bedeutet dieses „Wachen“ für unser Leben mitten in dieser Welt? Soll sich eine frisch Verliebte auf das Ende der Welt freuen? Ihr ehrliches Herzensgebet würde wohl eher so klingen: „Jesus, ich freue mich an dir, aber komm’ jetzt bitte noch nicht, das Leben ist gerade so schön.“ Wie gehen wir mit dieser Spannung als Christen um, durchzieht sie doch unser Leben an vielen Stellen?

Freude in und an dieser Welt einerseits, Freude an Gott andererseits. Was heißt hier „Wachen“? Lk 17,26ff. kennzeichnet die Endzeit in Entsprechung zur Urzeit.
Es werde sein wie in den Tagen Noahs: sie aßen, sie tranken, sie heirateten – und beachteten nicht, dass Gott richtend eingreifen werde. Diese Worte wollen einer Verliebten, einem frisch verheirateten Paar, einer Familie, die gerade ihr neu gebautes Haus bezogen hat, kein schlechtes Gewissen machen oder ihnen gar nahe legen, ihre Freude zu verneinen. Sie wollen jedoch davor bewahren, sich an das zu verlieren, was unser Leben von der Schöpfung her ausmacht und an sich gar nicht verwerflich ist. Dann aber kann es bedrohlich für uns werden, wenn wir unser Herz daran verlieren. Positiv formuliert: bleibe ausgerichtet auf Gott als deinen Schöpfer. Danke ihm für dein Glück. Bleib dir dessen bewusst: ich bin wesenhaft Gottes bedürftig. Wo ich mich von ihm abwende, da können mir die Dinge dieser Welt in verhängnisvoller Weise zum Gottesersatz werden, da werde ich so bedürftig und gierig im Blick auf die Dinge dieser Welt, dass ich meine Freiheit im Leben und im Glauben einbüße. Wo ich verantwortlich vor und mit ihm lebe, da kommt es zu keiner Konkurrenz zwischen der Freude an dem von Gott Gegebenen und der Freude an Gott. Die vom Schöpfer gegebene Freude wird von unserem wiederkommenden Herrn nicht bestritten oder gar zerstört. Aber sein Kommen bringt eine heilsame Relativierung mit sich: so schön auch Irdisches ist und sein kann, es währt nicht ewig. „Wachen“ meint also ganz auf Gott und sein Reich ausgerichtet zu leben, ausgerichtet auf ihn als den Schöpfer und auf ihn als den, der auf uns zukommt, um die Gemeinschaft der Liebe zu vollenden.

Leben wir in der Endzeit? Hoffentlich! Hoffentlich leben wir aus der Freude an Jesus, lieben Gott und unsere Nächsten. So leben wir der Endzeit gemäß, so „wachen“ wir.

Thomas Maier, Pfarrer, Direktor der Evangelischen Missionsschule Unterweissach

Text aus dem Magazin "Gemeinschaft" 12/2011