Versöhnung

Zerrissenheit ist ein Kennzeichen unserer Zeit und deren Überwindung die große Sehnsucht.

Asiatische und sonstige Lebensphilosophien, die zur inneren und äußeren Einheit führen sollen, haben Hochkonjunktur. Das Gleichgewicht in Familie und Gesellschaft bricht parallel dazu immer mehr auseinander. Den Bruch mit Gott (1.Mose 3) erkennen wir in den Brüchen zwischen Menschen. Die Folgen des Sündenfalls sind unübersehbar. Alle menschlichen Versuche, den Riss zu reparieren, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Irrwege. Genauso konkret wie den Sündenfall haben wir die Botschaft von der Versöhnung zu nehmen. Sie zielt nicht auf unser frommes Gefühl, sondern auf unseren Alltag. Die versöhnte Beziehung zu Gott hat die versöhnte Beziehung zu unseren Mitmenschen, zu unserer Geschichte und zur Schöpfung zur Folge.

Versöhnung ist das zentrale Thema der Bibel. Gott gibt sich mit dem Bruch zwischen sich und den Menschen nicht zufrieden. Er will nicht, dass der Mensch an seiner Sünde zugrunde geht,sonder n dass er lebt! Das kann aber nicht geschehen, indem Gott die Schuld des Menschen bagatellisiert. Die Sünde, die zwischen ihm und den Menschen steht, muss gesühnt werden.

1. Wortbedeutung

Das Wort, das wir mit „versöhnen“ übersetzen, meint im Hebräischen: „zudecken, verhüllen“. Es stammt vom Wortstamm „Kippär“. Wir kennen es vom großen Versöhnungstag, von dem im 3. Buch Mose die Rede ist: Jom Kippur.
Im Griechischen wird „Kippär“ mit dem Wort „hilaskomai“ wiedergegeben, was soviel wie „gnädig machen“ bedeutet. Dieses Wort gebraucht beispielsweise der Zöllner im Tempel, wenn er sagt: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lk 18,13).
Gebräuchlicher ist jedoch das Wort „katallassô“, das im Grundwort: „verändern, vertauschen“ bedeutet. Luther spricht deshalb im Blick von der Versöhnung zu Recht vom „fröhlichen Wechsel“. Wenn in diesem Wort der Gedanke der „Sühne“ auch nicht direkt vorkommt, so wird doch im jeweiligen Zusammenhang deutlich, dass dieser „Tausch“ ohne Sühne nicht zu haben ist.
Unser deutsches Wort nimmt den Gedanken der Sühne direkt auf. Versöhnung kommt von „versühnen, gutmachen, aussöhnen“. Friede kann da entstehen, wo ein Streit gesühnt, wieder gutgemacht ist.

2. Zorn Gottes und Opfer

Die Missachtung seiner Heiligkeit fordert Gottes Zorn. Wir müssen uns jedoch davor hüten, diesen Zorn im Sinne einer menschlichen Unkontrolliertheit zu verstehen. Vielmehr lässt seine Heiligkeit das Unheilige in seiner Gegenwart nicht zu. Wie Papier in der Glut verbrennen muss, so geht es dem Sünder in der Nähe Gottes (Jes 6,3-5).
Von Natur aus sind wir Kinder des Zorns (Eph 2,3). „Gott liebt die Menschen bis zur Hingabe seines Sohnes (Joh 3,16), aber als der Heilige und Reine zürnt er allem, was seinem innersten Wesen zuwider ist, und vernichtet, was sich gegen ihn und seine Ordnung erhebt (Ps 5,5-7)“ (Fritz Rienecker). Sünde hat auch dort mit dem heiligen Gott zu tun, wo sie sich scheinbar „nur“ zwischen Menschen abspielt. Sie zielt durch die damit verbundene Missachtung der Gebote immer auf Gott. Wir können Sünde nie losgelöst von Gott betrachten!

Als das Volk Israel auf der Wüstenwanderung gegen Gott murrt, bekommt es den Zorn Gottes im vernichtenden Feuer zu spüren (4.Mose 11,1). Bei der Landnahme scheitert Israel am vermeidlich schwachen Ai, weil Achan etwas von dem nahm, was Gott unter den Bann getan hatte (Jos 7,1). Es erlebt im Scheitern den Zorn Gottes.
Der Psalmist stellt den Zusammenhang zwischen Zorn Gottes und unserm Sterben her, wenn er sagt: „Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen…“ (Ps 90,7). Die Sündopfer des Alten Testamentes dienen dazu, die Sünde als Ursache des Zornes Gottes zuzudecken. Dazu ist dem Volk Israel das Blut als Sühnemittel gegeben (3.Mose 17,11). Es steht für die Dahingabe des Lebens.

3. Der große Versöhnungstag im Alten Testament (3.Mose 16)

Wer den Opfertod Jesu verstehen will, muss ihn unter dem Hintergrund der alttestamentlichen Opferriten begreifen. Der Jom Kippur ist ein Sinnbild für das Kreuzesgeschehen durch Jesus Christus.
Gott führte diesen Tag ein, nachdem zwei Söhne Aarons beim Opferdienst umgekommen waren. Sie hatten ein „fremdes Feuer“ beim Opfern verwendet (3.Mose 10,1+2). Deshalb mussten die beiden Priester sterben. Am Jom Kippur wird deutlich, dass sich der Mensch Gott nicht einfach nahen kann. Nur ein ganz bestimmter Mann, nämlich der Hohepriester, durfte überhaupt ins Allerheiligste. Und dies nur einmal im Jahr unter ganz bestimmten Vorgaben. Bevor er den Priesterdienst für das Volk tun konnte, musste er für sich selber opfern. Der Priester ist wie das Volk schuldig und braucht die Vergebung.
Für das Volk werden zwei Böcke genommen. Über beide wird das Los geworfen, „ein Los dem Herrn und das andere dem Asasel“. Der Bock, dessen Los auf den Herrn fiel, wird auf dem Altar geopfert. Sein Blut wird an den Gnadenstuhl im Innersten des Allerheiligsten gesprengt. Der zweite Bock, dessen Los auf Asasel fällt, „soll er (der Priester) lebendig vor den Herrn stellen, dass er über ihm Sühne vollziehe und ihn zu Asasel in die Wüste schicke“ (10). In unsere Umgangssprache ist er als „Sündenbock“ eingegangen. Der Priester legte seine Hand auf dessen Kopf und bekannte über ihm „alle Missetat der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen“ (21).
Über die Frage, wer Asasel ist, wurde im Zusammenhang mit dieser Stelle viel nachgedacht. Mir scheint dabei die Erklärung hilfreich, dass Asasel von dem hebräischen Verb „azal“ abgeleitet werden kann. „Azal“ bedeutet „wegtragen“. So könnten wir Asasel als den „Hinwegträger der Sünde“ verstehen.
In diesen beiden Opfern werden so zwei Aspekte von Versöhnung deutlich. Der eine Bock muss auf dem Altar geopfert werden, weil die Sünde den Tod fordert. Der andere Bock trägt die Sünde stellvertretend aus dem Lager weg.

4. 2.Kor 5,16-21

„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“ (19).

4.1. Jesus der Hohepriester

Der Hebräerbrief nimmt den großen Versöhnungstag als Hinweis auf den Kreuzestod Jesu. Jesus ist dabei nicht nur der Priester, der das Opfer für das Volk darbringt, sondern zugleich das Opfer selber. Anders als bei den bisherigen Priestern muss er für sich selber kein Opfer bringen. Er ist im Gegensatz zu diesen vollkommen sündlos.
Diese Opferhandlung ist deshalb nicht nur eine Verbesserung der bisherigen. Sie hat eine neue Qualität. Das Opfer Jesu ist umfassend und endgültig. Hier finden alle alttestamentlichen Opfer ihre Erfüllung. Auf Christus hin hatten diese in der Vergangenheit ihre Gültigkeit. In 2.Kor 5 wird das Werk des Hohepriesters Jesus beschrieben.

4.2. Was will die Versöhnung?

Die Renovierung eines alten Hauses hat nur dann Sinn, wenn die Bausubstanz gut ist. Wenn die Mauern marode sind, dann hilft letztlich nur der Abriss. Geht bei einem alten Auto der Motor kaputt, wird sich der Besitzer die Frage stellen, ob der allgemeine Zustand des Fahrzeugs einen Motortausch rechtfertigt.
Deshalb kann es bei dem gefallenen Menschen auch nicht um Renovierung oder Austausch defekter Bereiche gehen. Er muss von Grund auf neu werden. Die Sünde hat alle Lebensbereiche infiziert und vergiftet. Die Versöhnung zielt deshalb auf eine Erneuerung. „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (2.Kor 5,17).
Wer an den scheinbar guten Willen des Menschen appelliert, versucht zu renovieren. Denn eben auch der Wille des Menschen muss erneuert werden (Röm 12,1).

4.3. Wer will die Versöhnung?

Wie beim Jom Kippur des Alten Testamentes geht die Aktion von Gott aus (2.Kor 5,18). Der Mensch kann von sich aus die Versöhnung mit Gott nicht schaffen. Er empfindet bestenfalls die Trennung zwischen sich und Gott. Alle menschlichen Lösungsversuche sind bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt.
Deshalb versöhnt Gott. Er ist der Aktive. Dem Menschen wird die Versöhnung angetragen. „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2.Kor 5,20b). Das ist nicht die Aufforderung, nun Hand anzulegen. Vielmehr fordert sie die Bereitschaft, alle eigenen Werke aus der Hand zu legen und die Versöhnung Gottes geschehen zu lassen.

4.4. Wer versöhnt wen?

In Mk 10,45 heißt es: Der Menschensohn ist gekommen, „…dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.“ Und Paulus schreibt an Timotheus: „Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung“ (1.Tim 2,5+6). Gott ist also der Versöhner!

Wer aber muss versöhnt werden?
In der Kirchengeschichte wurde hin und wieder gesagt, dass der Mensch vom Teufel losgekauft wurde. Dieser Eindruck legt sich zunächst nahe. An keiner Stelle des Alten Testaments finden wir jedoch einen Anhaltspunkt dafür, dass die Opfer der Besänftigung des Teufels dienten. Es geht bei den Sündopfern immer um das Bedecken der Schuld vor Gott. Eben diese Schuld, die der Grund für Gottes Zorn ist. Deshalb ist auch Gott der zu Versöhnende. Es ist das Unfassbare, dass die Liebe Gottes so gewaltig ist, dass der zu Versöhnende die Versöhnung selber schafft.

Welche Bedeutung hat dann der Teufel?
Wir müssen unterscheiden zwischen Versöhnung und Erlösung. Der Teufel benutzt die Sünde, um den Menschen aus der Gegenwart Gottes zu treiben. Er tritt als Verkläger auf, der die Strafe einfordert. Das wird bei Hiob deutlich. Gott weist auf seinen Knecht Hiob hin, der „fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig“ ist und das Böse meidet (Hiob 1,8). Nachdem der Satan behauptet, Hiob täte dies nicht aus Liebe zu Gott, sondern nur aus Berechnung, erhält der Satan die Erlaubnis (!), Hiob zu versuchen (Hiob 1,7-10). Der Satan hat ein Interesse, Hiob zur Sünde zu verführen, damit er ihn Gott durch dessen Zorn entreißen kann.
„Wenn nun freilich diese Mächte nur über uns Gewalt haben können in der Kraft des Zornes Gottes und nicht aus einem ihnen selbst eigenen Anspruch und Recht, so ist die Stillung des Zornes Gottes, der Versöhnung, bereits die Erlösung von der Gewaltherrschaft dieser Mächte“ (Heinrich Vogel).
Der Teufel versucht deshalb, den Opfertod Jesu bis zum Schluss zu verhindern, weil es ihn machtlos macht. Aus der Menschen Mund lässt er höhnen: „Bist du Gottes Sohn, so steig doch vom Kreuz!“ (Mt 27,40). Der Teufel ist am Gericht, das Gott selber an der Sünde – seinem Sohn – vollzieht, nicht beteiligt.
Die Erlösung von Hölle, Tod und Teufel ist die Konsequenz der Versöhnung.

4.5. Wie geschieht die Versöhnung?

Ohne Sühne geht es nicht, denn die Sünde fordert den Tod. Am Karfreitag bringt unser Hohepriester Jesus Christus sich selber als Opfer für die Versöhnung dar. Er lässt sich am Kreuz für unsere Sünden hinrichten. Der, der die Sünde nicht kannte, wird die Sünde in Person. In dem stellvertretenden Leiden und Sterben Jesu liegt die Vergebung der Sünden und damit die Versöhnung. An unsere Stelle tritt Jesus und lässt sich zur Sünde machen. In ihm werden wir Gott recht.

„Die Sünden der ganzen Welt sind nicht dort, wo sie anschaulich sind und empfunden werden. Denn für die Theologie gibt es keine Sünde, keinen Tod in der Welt. Aber für die Philosophie und die Ratio sind die Sünden nirgendwo anders sonst als in der Welt… Das ist alles ganz und gar gottlos. Die wahre Lehr besagt, dass in der Tat keine Sünde in der Welt ist, weil Christus die Sünde besiegt hat an seinem Leibe.“ (Martin Luther)
„Wenn meine Sünd’ mich kränken, o mein Herr Jesu Christ, so lass mich wohl bedenken, wie du gestorben bist, und alle meine Schuldenlast am Stamm des heilgen Kreuzes auf dich genommen hast.“ (GL 103)

Anmerkung:
Karfreitag ist die Erfüllung des jährlichen Jom Kippur. In der Ordnung dieses Tages wird dem Volk ein (Buß)Fasten auferlegt. An keiner anderen Stelle der mosaischen Gesetzgebung wird sonst ein Fasten vorgeschrieben.
Ich stelle fest, dass der Karfreitag an Bedeutung verloren hat. Bereits der Samstag zwischen Ostern und Karfreitag wandelt sich vom Kar-Samstag zum Oster-Samstag.
Am Kreuz werden die Grausamkeit der Sünde und die Liebe Gottes deutlich. Der Karfreitag hat deshalb entsprechend des Fastens am Jom Kippur einen Akzent auf der Buße. Wo dieser Akzent verloren geht, verliert unser Glaube an Tiefe.

5. Konsequenzen

5.1. Mission und Evangelisation

Die Botschaft von der Versöhnung ist ein Wort für alle Menschen. Die, die es verstanden und angenommen haben, sind ihrerseits aufgefordert, es weiterzusagen. Der Auftraggeber ist Christus selber. An seiner Stelle bitten wir: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“
In der Versöhnung wird der himmelweite Unterschied zwischen unserem Gott und den Göttern in den Religionen deutlich. Nur in Jesus Christus haben wir den Zugang zu Gott, weil wir nicht in unserer eigenen Gerechtigkeit vor ihn treten, sondern in der uns von ihm geschenkten. Die Menschen brauchen keine Religion, sondern Versöhnung mit Gott.

5.2. Versöhnt leben

Christus ist für uns zur Sünde gemacht. Wenn wir Sünde fassen wollen, dann müssen wir sie am Kreuz suchen. Jesus hat sich zum Inbegriff der Sünde am Kreuz machen lassen. Konkret bedeutet dies, dass alle Schuld – auch die, die wir heute einander zufügen – bereits am Kreuz von Golgatha hängt.
Versöhnung leben bedeutet deshalb, die mir zugefügte Schuld nicht bei meinem Mitmenschen zu sehen, sondern am Kreuz. Und Unversöhnlichkeit wäre demnach nichts anderes als Unglaube. Wer die Sünde seinem Bruder oder Schwester lässt, glaubt nicht, dass Christus zur Sünde gemacht wurde.

Günter Blatz, Beutelsbach