Leiden

Das Leiden hat viele Gesichter

Selbstverschuldetes Leiden

Manches von dem, was wir erleiden, ist durch eigene Verschuldung entstanden. Kein Mensch ist fehlerlos. Ich erinnere mich an Bruder Eppinger von Denkendorf, der in einer Stunde erzählte, wie er in der Eile eine rote Ampel überfahren habe. Einem Polizisten, der ihn sofort anhielt, habe er geantwortet: "Ich bin schuldig, ich weiß es. Sagen Sie mir schnell, was es kostet. Ich habe es eilig". Nicht immer geht es so glimpflich ab. Wenn wir einer inneren Weisung ungehorsam sind, wird es oft viel problematischer. Dann kann ein schwieriger Weg beginnen, den wir vielleicht durch Umkehr berichtigen, oft aber nur schwer durchhalten können. Wie oft sind Fehlwege schon zu Leidenswegen geworden, aus denen es keine Fluchtmöglichkeit gab. Dann tritt ein, was schon in der griechischen Philosophie gelehrt wurde, dass Leiden uns zur Mehrung von Erfahrung und besseren Einsicht dienen sollen. Diese Seite des Leidens finden wir auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn wieder. Ein jeder von uns hat hier seine eigenen Erfahrungen gemacht. Das sind dann Erziehungsleiden, die erkennbar werden und nicht das nagende "Warum" in sich tragen.

Geheimnisvolles Leiden

Es gibt aber auch ein Leiden, über dem wir nur den Mund in den Staub legen können. Wir spüren, dass hier ein Geheimnis waltet, dessen Hintergrund wir nicht kennen. In der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen sagt Jesus zu den Jüngern: "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern; sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm" (Joh 9,3). Hiobs Freunde meinten, recht zu urteilen und taten es doch nicht. Der von ihnen Gemaßregelte musste am Ende bei Gott um Gnade für sie bitten. Warum war ihr Urteil in diesem Fall falsch? Weil sie den Hintergrund nicht kannten, das vorausgegangene Gespräch zwischen Gott und Satan (Kap 1+2). Nach bestandener Prüfung rechtfertigte Gott den Hiob auf seine Weise (Kap 42,10ff). Er hatte sich damit bewährt, dass er auch in der tiefsten Tiefe an Gott festgehalten hatte (Jak 5,10+11). Zu dieser Art von nicht erklärbaren Leiden gehören sicher mehr Schicksale, als wir ahnen (vgl. 1.Petr 5,8). Krankheiten, Unfälle, Behinderungen mannigfacher Art sind Schickungen, deren Grund uns oftmals verborgen bleibt.

Stellvertretendes Leiden

Das stellvertretende Leiden hat etwas mit Berufung zu tun. Wir kennen den Einen, der stellvertretend für uns ans Kreuz ging als den "Christus für uns". "Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen... Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten" (Jes 53,4+5). Die hier vollzogene Stellvertretung im Sinn eines Austausches (2.Kor 5,19-21) ist einmalig und universal. Menschliche Stellvertretung ist begrenzt: "Kann doch keiner den anderen erlösen", heißt es in Psalm 49,9. Aber zu stellvertretendem Handeln im Sinn von Unterstützung sind auch wir berufen: "Einer trage des anderen Last" (Gal 6,2). Denken wir einmal an die Zeitkrankheit der Depression. Christa Meves fordert dringend dazu auf, die Schwermütigen nicht allein zu lassen, sondern bei ihnen zu sein, nicht mit guten Ratschlägen, sondern in mittragendem Begleiten. In Hes 22,30 lesen wir, dass Gott Menschen sucht, die für andere in den Riss treten: "Ich suchte unter ihnen, ob jemand eine Mauer ziehen und in die Bresche vor mir treten würde für das Land, damit ich's nicht vernichten müsste; aber ich fand keinen". Was wir in Fürsorge, Fürbitte, Fürsprache füreinander tun können, ist der Stellvertretung sehr verwandt. Wir kennen die großen Fürbitter im Alten Testament: Abraham, Mose, Daniel und lesen im Neuen Testament, dass Paulus bereit war, für seine jüdischen Stammesgenossen in die Verbannung zu gehen, wenn er damit hätte ihre Bekehrung erreichen können. Und wir wissen, dass auch in unserer Zeit Menschen für andere in Verbannung und Tod gegangen sind. Pater Maximilian Kolbe ging 1941 im KZ in Auschwitz freiwillig anstelle eines Familienvaters in den Tod. Der Genfer Chirurg Georges Regard, Vorläufer der Penicillinforschung, starb an den Folgen von Versuchen, die er am eigenen Leib vorgenommen hatte. Am Ende seines Lebens schrieb er: "Wenn Christus ruft, antwortet man mit Freuden: hier! Angesichts des Grabes, das sich zu meinen Füßen öffnet, habe ich den König der Schrecken nicht einmal von weitem erblickt. Einzig den Erlöser habe ich gesehen... Da mein Geist vom Glauben an Christus erfüllt war, wandelte ich zwei Jahre im Tal der Todesschatten wie in einem Tal des Glücks."

Das Leiden im Horizont der Welterlösung

Der Ratschluss von Ewigkeit her

Das erstemal, wo in der Bibel der Name Gottes genannt wird, steht das Wort "Elohim": "Im Anfang schuf Gott (Elohim) Himmel und Erde". Im Gottesnamen Elohim, der in der hebräischen Sprache eine Mehrzahlsform ist, liegt das Geheimnis der Dreieinigkeit verborgen. Unsere Väter haben die biblischen Wahrheiten gern in leicht erlernbare Wortspiele gekleidet. Eine solche Lernformel für das Geheimnis des Gottesnamens Elohim lautete: "Der ewig liebende Gott hat mit dem ewig geliebten Sohn durch den ewigen Geist der Liebe einen ewigen Liebensbund geschlossen, dass er seine Schöpfung nicht verlassen noch versäumen werde, auch wenn sie von ihm abfallen würde". Mit diesen Worten ist das unergründliche Geheimnis der Trinität angesprochen. Es enthält den Beschluss, im Notfall einen möglichen Abfall wieder zu heilen, auch wenn dies nur durch Leiden möglich wäre. Gott war also bereit, mit der Erschaffung selbständigen Lebens ein Risiko einzugehen. Dies bestätigt Petrus in seinem ersten Brief, wenn er sagt, dass Christus schon vor Grundlegung der Welt sich bereit erklärt habe, als schuldloses (Opfer-)Lamm den Kosmos wieder heimzuholenzu Gott, wenn er je verlorengehen sollte (1.Petr 1,19+20). Der Kernphysiker Bernhard Philbert hat in seinem Buch "Der Dreieine" wissenschaftlich nachgewiesen, dass das Geheimnis der Trinität im ganzen Kosmos nachweisbar vorhanden sei. Fritz Rienecker findet dieselbe Wahrheit im Johannesevangelium ausgesprochen: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott" (Joh 1,1+2). Zweimal heißt es wörtlich: "hin(-gewandt) zu Gott". Fritz Rienecker meint, dass wir hier ein Gespräch zwischen dem Vater und dem Sohn vermuten dürfen, also dem, durch den alle Dinge geschaffen wurden. Die Ersten also, die zum Leiden bereit waren, war der Schöpfer selbst und sein Sohn Jesus Christus. Damit, dass Gott sich entschloss, seine Schöpfung unter keinen Umständen preiszugeben, entstand eine neue Dimension des Lebens: das Leiden. Diese Erkenntnis ist so gewaltig, dass sie uns zuerst einmal die Sprache verschlägt. Wenn wir aber in der Stille darüber nachdenken, dann erstrahlt uns der Name Jesus Christus auf einmal in einem wunderbaren Licht: Gesalbter Erretter, Heiland, Erlöser der Welt!
Paul Gerhardt trifft die Mitte: "Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden".

Leiden um Christi willen

Es ist ein schwerwiegendes, aber auch tröstliches Wort, dass die Gemeinde, als Leib Christi, Anteil haben muss an den Leiden Christi. Das sagen einige Worte Jesu frei heraus. "Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen" (Joh 15,20). "Ihr werdet gehasst werden um meines Namens willen von allen Völkern" (Mt 24,9). "Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein" (Lk 24,27). Petrus nennt sich demzufolge "...den Mitältesten und Zeugen der Leiden Christi" (1.Petr 5,1).
Die Leiden um Christi willen sind nicht mit einem vermeidbaren Unglücksfall zu vergleichen, sondern Teil eines strategischen Konzepts, mit dem unabänderlich der Sieg verbunden ist. Deshalb kann Jesus in der Bergpredigt auch sagen: "Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstroßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. Freut euch an jenem Tage und springt vor Freude; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel" (Lk 6,22+23). Ähnliches schreibt Paulus im Kolosserbrief: "Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde" (Kol 1,24). Im Römerbrief bindet er die Verheißung der Kind- und Erbschaft an die Bedingung: "...wenn wir denn mit ihm leiden" (8,17). Kann man auf das Leiden ein so großes Gewicht legen? möchten wir fragen. Stellt das nicht alles auf den Kopf, was wir empfinden, wenn wir das Wort "Leiden" gebrauchen? Petrus sagt nein. "Wenn ihr um guter Taten willen leidet und es ertragt, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen" (1.Petr 2,20+21). Es ist wahr, den tieferen Sinn des Leidens kann nur der begreifen, der über den Horizont hinaussieht. Er weiß, dass aller Jammer und alle Qual, aller Schmerz und alles Leiden vorübergehende Erscheinungen sind. Im Tunnel drin ist es dunkel, aber am Ende des Tunnels wird es hell. "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein" (Offb 21,4). "Die Tage des Leidens sollen ein Ende haben" (Jes 60,20). "Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides"! (Jer 29,11).

Das Leiden in der Praxis des Alltags

Wie werden wir fertig mit den Anfechtungen auf unserem Weg?
Wir werden still, wenn wir das Klagen verabschieden und Gott anbeten. So lernen wir's bei den Vorbildern des Glaubens: Von Blaise Pascal gibt es folgendes Krankengebet: "Ich bitte weder um Gesundheit noch um Krankheit, weder um Leben noch um Tod, sondern darum, dass du über meine Gesundheit und Krankheit, über mein Leben und meinen Tod verfügst zu deiner Ehre und zu meinem Heil. Du allein weißt, was mir dienlich ist. Du bist der Herr, tue, was du willst. Gib mir, nimm mir! Herr, ich weiß, dass ich nur eines weiß: Es ist mir gut, dir zu folgen, und es ist mir schädlich, dich zu beleidigen. Ich weiß nicht, was mir nützlicher ist, Gesundheit oder Krankheit, Reichtum oder Armut, und ebenso ist es bei allen Dingen der Welt. Diese Entscheidung übersteigt die Kraft der Menschen und Engel. Was mir nützlich oder schädlich ist, bleibt mir verborgen; es ist dein Geheimnis, ich will es nicht ergründen. Ich will nur anbeten."
Dietrich Bonhoeffer sagt: "Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Ziittern aus deiner guten und geliebten Hand".
Franz von Sales meint in der Besinnung über "Gottes ewige Weisheit", Gott habe das uns zugeordnete Kreuz "gewogen mit seinen beiden Händen, ob es nicht ein Milligramm zu schwer und einen Millimeter zu groß sei".
Paulus schreibt von einem "Pfahl im Fleisch", um dessen Wegnehmen er dreimal zum Herrn geschrien und nur die eine Antwort erhalten habe: "Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" (2.Kor 12,9). Auch bei einer solchen Absage Gottes ist also nicht Verzweiflung angesagt, sondern Stillewerden und Anbetung. Vom alten Bruder Endres von Owen (Teck) wird erzählt, dass er die Not seiner kinderlosen Ehe oft auf dem Dachboden seines Hauses vor Gott ausgebreitet habe. Sein Schreien sei nicht erhört worden. Aber eines Tages habe er ganz tief im Herzen dieselbe Antwort vernommen, die Gott einst Mose gab, als er ihn anflehte, doch das gelobte Land noch betreten zu dürfen: "Rede mir davon nicht mehr" (5.Mo 3,26). Da habe er gewusst, dass er keine Nachkommen haben werde, habe "ja" gesagt und sei innerlich ganz still geworden.

Gottes Gegenwart erleuchtet unsere Nacht

Die Geburtsstunde des Leidens liegt vor der Erschaffung der Welt. Ihre letzte Stunde schlägt, wenn die alte Welt vergeht. So lange müssen wir aushalten. Doch die neue Schöpfung wirft ihre Schatten spürbar voraus. Die Zukunft hat schon begonnen (vgl. 2.Kor 5,17). Nun werden die Leiden der Jetztzeit Durchgangsstation. Gott gab uns das Versprechen, dass er uns darin nicht allein lässt. "Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen" (Jes 43,3; dazu Jos 1,5; Jer 15,19). Der scheidende Herr sagt zu seinen Jüngern: "Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch" (Joh 14,18). "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Mt 28,20). So dürfen wir erfahren, was schon David bekannt hat: "Er macht meine Finsternis licht" (2.Sam 22,29).

Am Ziel ist Freude

Der Reformator Philipp Melanchthon sagte einmal: "Gegenüber der reinen Höhenluft des Wortes Gottes verblassen alle Kommentare". Deshalb soll am Ende unserer Besinnung nur noch Gottes Wort selbst reden, das uns nach der Zeit der Leiden eine herrliche Zukunft verheißt:
"Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über die Maßen gewichtige Herrlichkeit" (2.Kor 4,17). "Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll" (Röm 8,19).
"Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen" (Jes 35,10). "Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich" (Dan 12,3 nach Felix Mendelsohns Oratorium "Elias"). Die Perlentore der neuen Gottesstadt predigen es laut: Aus Krankheit und Leiden wird Gott eine ewige Herrlichkeit schaffen.

Theodor Fuhr, Grainau