Kreuz

Außerhalb des Neuen Testaments

Die Hinrichtung am Kreuz galt zur Zeit Jesu als hässlichste und grausamste Todesstrafe. Der römische Philosoph Seneca (4 – 65 n. Chr.) beschrieb den Tod des Verurteilten mit kurzen Worten: „Er stirbt Glied für Glied und haucht seine Seele tropfenweise aus.“

Die Kreuzesstrafe ist keine abendländische Erfindung, sondern stammt den geschichtlichen Überlieferungen nach aus dem Orient. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot (ca. 500 – 424 v. Chr.) erwähnt, dass der medische König Astyages im 6. Jahrhundert v.Chr. seine Gegner ans Kreuz schlagen ließ (Historien I, 128).

Die Römer setzten die Kreuzigung bewusst als Abschreckungsstrafe ein. Sie wurde z.B. gegen Sklaven, Räuber und Aufständische angewandt. Oft war die Geißelung mit der Kreuzesstrafe verbunden, wozu R. Riesner in seinem Artikel im Großen Bibellexikon bemerkt: „Schon allein diese barbarische Strafe (=Geißelung) konnte zum Tod führen.“ Die Kreuze hatten verschiedene Gestalt: ein einfacher Pfahl oder T-förmig, X-förmig oder t-förmig. Die zuletzt genannte Form ist für das Kreuz Jesu anzunehmen. Die Verurteilten mussten den Querbalken oder auch das ganze Kreuz zur Hinrichtungsstätte hinausschleppen. Dort wurden sie mit ausgestreckten Armen am Querbalken befestigt. Im Falle der Annagelung wurden die Schmerzen bis ins Unerträgliche verschärft. „Den Gekreuzigten“, schreibt R. Riesner in seinem oben erwähnten Artikel, „quälten furchtbarer Durst…, rasende Kopfschmerzen, hohes Fieber und peinigende Angstzustände. Aufgrund der schweren Verletzungen und des starken Blutverlusts kam es oft zu Schockzuständen, die in einem Zusammenbruch des Kreislaufs endeten. Die Hängelage führte zu Atemnot, und der Gepeinigte konnte dem Erstickungstod nur entgehen, indem er sich immer wieder unter unsäglichen Qualen aufrichtete.“

Kurz vor der Zeitenwende wurde die Kreuzigung als Strafe auch bei den Makkabäern bzw. Hasmonäern in Israel eingeführt. So ließ König Alexander Jannai (104 – 78 v. Chr.) einmal 800 Pharisäer kreuzigen.

Die Schwere und Grausamkeit erhellt auch aus einem Vorfall, von dem ein Zeitgenosse des Paulus, der jüdische Geschichtsschreiber Josephus (ca. 37 – 100 n. Chr.) berichtet. Während des jüdisch-römischen Krieges von 66 – 73 n. Chr. traf er in der Nähe von Thekoa südlich von Jerusalem einige Gekreuzigte, in denen er drei seiner Freunde wiedererkannte. Unter Tränen bat er den römischen Oberbefehlshaber Titus um Hilfe. Dieser ließ die drei Freunde sofort vom Kreuz nehmen und intensiv ärztlich versorgen. Dennoch starben zwei von ihnen unter den Händen der Ärzte, und nur der Dritte überlebte.

Wie sprach Jesus vom Kreuz?

Jesus erhielt bei seiner Taufe den Auftrag zum Opfertod. Das bezeugen alle Evangelien (vgl. Mt 3,13-17; Mk 1,9-11; Lk 3,21-22; Joh 1,29-34). Sowohl Matthäus als auch Markus und Lukas berichten von einer göttlichen Stimme, die aus dem Himmel kam und Jesus in doppelter Weise ansprach:

  1. er sei Gottes „Sohn, der geliebte“. Das erinnert uns an 1.Mose 22,2 und macht damit deutlich, dass auch Jesus einer Opferung entgegengeht.
  2. Gott habe an ihm „Wohlgefallen“. Das erinnert uns an den Gottesknecht von Jes 42,1, der nach Jes 53,10 sein Leben zum Schuldopfer darbringt.

Von beiden Stellen her ist also deutlich, dass Jesus nach dem Willen des Vaters den Sühnetod für uns sündige Menschen sterben soll. Doch wie?

Nun treffen wir auf eine ganze Kette von Aussagen Jesu, in denen er mit zunehmender Klarheit von seinem bevorstehenden Kreuzestod spricht. Wenn wir unser Kreuz auf uns nehmen, folgen wir ihm nach. Er trägt also ebenfalls sein Kreuz (Mt 10,38; 16,24). In seinen Leidensweissagungen spricht er ausdrücklich davon, dass er gekreuzigt wird (Mt 20,19; 26,2). Wenn er bewusst zum dritten Passafest nach Jerusalem geht (Lk 9,51), dann tut er es in dem Bewusstsein, dass ihn dort der Kreuzestod erwartet.
Er sah dies umso deutlicher voraus, als sein jüdisches Volk damals nicht das Recht zur Todesstrafe hatte (Joh 18,31). Nur die Römer als Herrscher des Landes hatten dieses Recht. Wie oben bemerkt, griffen sie gern zum Mittel der Kreuzigung, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. So lag schon auf der menschlichen Ebene die Annahme nahe, dass Jesus gekreuzigt werden würde. Zu groß war sein Einfluss im Volk (Joh 11,47ff.).

Es gehört nun zu den Überraschungen der Evangelien, dass Jesus keineswegs die Schmach des Kreuzes an die Spitze stellt. Er verlangt nicht einmal die Abschaffung dieser „hässlichsten Strafe“. Er stellt vielmehr ganz andere Gesichtspunkte in den Vordergrund.
Der erste dieser Gesichtspunkte ist, dass sein Tod am Kreuz zu einer großen Befreiung der Menschen führt. In Mt 20,28 lesen wir: „Der Menschensohn (= Jesus) ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung (griechisch lytron) für viele.“ Gemeint ist die Erlösung aus der Sklaverei der Sünde und der Schuld und damit auch aus der Sklaverei des Todes und des Teufels. Indem der unschuldige Gottessohn sein Leben für uns opfert, trifft den glaubenden Menschen keine Verwerfung mehr im göttlichen Gericht. Unser Gericht hat Jesus getragen.

Der zweite dieser Gesichtspunkte ist, dass am Kreuz seine vollkommene Treue zum Vater und damit seine Sündlosigkeit offenbar wird. Vor der Passion sagt Jesus: „Es kommt der Fürst dieser Welt“, nämlich der Teufel, aber „er hat keine Macht über mich“ (Joh 14,31). Der Teufel scheint am Kreuz zu triumphieren. Stattdessen wird er durch Jesu Treue am Kreuz aus dem Himmel gestürzt (Lk 10,18; Offb 12, 8f). Am Ende steht das Jesus-Wort: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19.30), weil Jesus seinen gesamten irdischen Auftrag am Kreuz vollbracht, ja sogar gekrönt hat.

Der dritte dieser Gesichtspunkte – nicht weniger wichtig als die anderen zwei – kommt erst zum Vorschein, wenn wir Jesu Sprache genauer betrachten. Auffallenderweise benutzt er für das Wort „kreuzigen“ mehrere Male das Wort „erhöhen“. In Joh 3,14 hat er das selbst erklärt: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn (= er selbst) erhöht werden.“ „Erhöhen“ heißt in diesem Zusammenhang:

  1. hoch oben am Holz des Kreuzes befestigt werden
  2. gerade so beim Vater im Himmel die Herrschaft über Himmel und Erde zu empfangen. So wird aus dem Kreuz Jesu der welterneuernde Sieg des dreieinigen Gottes.

Jesu Kreuzigung

Alle Evangelien führen uns auf die Kreuzigung hin. Man nannte sie deshalb gelegentlich Passionsberichte mit ausführlicher Einleitung. Einige Grundlinien sollen auch hier hervorgehoben werden.

Jesus ging den Weg zum Kreuz bewusst, aus eigenem Entschluss und in der Absicht, durch seinen Sühnetod die Schuld der Menschen auf sich zu nehmen und zu sühnen. Das zeigt schon das Vorbild des alttestamentlichen großen Versöhnungstages (vor allem 3Mo 16,20ff) und die Prophetie Jesajas (vor allem Kapitel 53). Es wird aber in den Evangelien sehr betont unterstrichen (vgl. die Abendmahlsberichte). Das Reden von Jesu „Ohnmacht“ o.ä. verdunkelt nur diesen Tatbestand.

Den letzten, schweren Weg ans Kreuz ging er ohne die Jünger. „Da verließen ihn alle Jünger und flohen“, sagt Matthäus (26,56). Nur gezwungenermaßen trug Simon von Kyrene in Nordafrika ein Stück weit sein Kreuz (Mt 27,32). Ohne menschliche Unterstützung kam es also zum Neuen Bund, der am Kreuz gestiftet wurde.
Denn das gehört nun zu den zentralen Geschehnissen der Kreuzigung, dass durch sie der Neue Bund gegründet wurde und in Kraft trat. In vorwegnehmender Deutung hat es Jesus beim Abendmahl selbst ausgesprochen: „Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28). Damit ist die jahrhundertelange Ankündigung eines Neuen Bundes durch die Propheten wahr geworden (vgl. 5Mo 18,15; Jer 31,31ff). Bei dieser Schließung des Neuen Bundes war Jesus alles in einer Person: der Mittler (1Tim 2,5), der Hohepriester (Hebr 8) und das grundlegende Opfer (Hebr 9,1-10,18). Erfüllt und zu Ende sind nun die Opfer des Alten Bundes. Abgelöst ist das Priestertum des Alten Bundes durch den ewigen Hohepriester Jesus Christus. Niemals mehr braucht die Menschheit einen neuen Mittler zwischen Gott und den Menschen.
Niemals mehr kann auch das Kreuz beseitigt werden. Es bleibt ein Geschichtsereignis mit Ewigkeitsbedeutung. Auch wenn wir keine Evangelien hätten, wüssten wir davon. So sagt die jüdische Überlieferung im Talmud: „Am Vorabend des Pesachfestes (= am Freitag vor dem Passa-Mahl) henkte man Jeschu (ans Kreuz)“, babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 43a. Und der römische Geschichtsschreiber Tacitus schreibt: „Christus war unter der Regierung des Tiberius (14 – 37 n. Chr.) vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden“, Annalen XV, 44.
Jesus hat wie die übrigen Delinquenten seine Kreuzigung bewusst erlebt. Die Evangelien berichten von seinem Durst (Joh 19,29), seinen Gebeten (Mt 27,46; Lk 23,34.46), von den letzten Regelungen, die er traf (Lk 23,39ff; Joh 19,25), seinem Todeskampf und seinem Verscheiden (Mt 26,45ff; Mk 15,33ff; Lk 23,44ff; Joh 19,28ff). Viele Einzelheiten können wir hier nicht mehr erwähnen. Erwähnt werden soll aber der Kreuzes-„Titel“, die kleine Tafel mit dem Grund der Hinrichtung. Bei Jesus war sie dreisprachig – hebräisch, lateinisch, griechisch – und enthielt die Worte: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“ (Joh 19,19). Damit enthält sie die Wahrheit; denn Jesus ist nach kurzer Jugendzeit in Ägypten in dem kleinen Nazareth aufgewachsen und aufgrund seiner menschlichen Herkunft aus Davids Geschlecht und seines Geistempfangs der rechtmäßige König von Israel.

Die Botschaft vom Kreuz bei den Aposteln und den frühen Christen

Wie zentral sie war, sieht man beispielhaft in dem kleinen Museum auf dem Palatin in Rom. Dort hängt ein in die Wand geritztes Bild wohl aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., das einen Gekreuzigten zeigt, spöttischerweise mit einem Eselskopf dargestellt. Darunter steht: „Alexamenos betet Gott an.“ Diese wenigen Worte enthüllen: Der gekreuzigte Jesus galt allen seinen Anbetern (den Christen) als „Gott“, als unzweifelhaft göttlich. Und sie enthüllen außerdem: Gerade aufgrund seines Kreuzestodes wurde Jesus angebetet. Er stand von Anfang an in der Mitte des christlichen Glaubens.
Wie zentral die Botschaft war, geht aber auch direkt aus den Zeugnissen der Apostel hervor. Johannes, der am längsten lebende Apostel aus dem Zwölferkreis, betont, dass Jesus Christus „gekommen ist durch Wasser und Blut“ (1Joh 5,6). Das ist eine eindeutige Bezugnahme auf die Kreuzigung (Joh 19,34). Gerade Johannes hat uns zusammen mit Lukas die meisten Einzelheiten über die Passion und Kreuzigung Jesu überliefert (Joh 18 – 19).
Petrus, Sprecher der zwölf Apostel und erster Leiter der Urgemeinde in Jerusalem, hat das Kreuz Jesu nicht weniger betont. Für ihn ist der Maßstab allen christlichen Handelns und Verhaltens der Jesus Christus, „der unsere Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz“, durch dessen „Wunden ihr heil geworden seid“ (1Petr 2,24). Sein teures Blut hat uns erlöst (1Petr 1,18f). Er bleibt für immer Modell und Vorbild der Christen (1Petr 2,21; 4,1).
Paulus kann sogar so weit zuspitzen, dass er sagt, er habe in Korinth nichts anderes wissen wollen „als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten“ (1Kor 2,2). Er nennt seine Botschaft ganz elementar „das Wort vom Kreuz“ (1Kor 1,18). Niemals soll das „Skandalon“, die Herausforderung durch das Kreuz, aufgehoben werden (Gal 5,11). Das „Kreuz unseres Herrn Jesus Christus“ ist sein ganzer Ruhm (Gal 6,14). Warum das alles? Weil Jesus am Kreuz die Sühne durch sein Blut vollbracht hat (Röm 3,25), weil sein Kreuz uns endgültig von der Sünde und der Herrschaft des Todes frei gemacht hat (Röm 6 – 8; 1Kor 15,55ff). Jetzt ist uns der ganze Segen Gottes und das ewige Leben aufgeschlossen (Gal 3,13f; Eph 2,14ff; Kol 1,20; 2,14).

Dr. Gerhard Maier, Landesbischof i.R., Tübingen