Jüngstes Gericht

Ein Beitrag zur Klärung einer wichtigen heilsgeschichtlichen Frage

Die biblische Botschaft vom Jüngsten Gereicht (Endgericht) ist durch alle Zeiten hindurch äußerst umstritten gewesen und wurde - z. T. selbst durch Theologen - relativiert, ja scharf abgelehnt (weil das doch mit einem "Gott der Liebe" nicht in Einklang zu bringen sei). Auf der anderen Seite besteht auch unter gläubigen Menschen viel Unklarheit und Unsicherheit im Blick auf die biblische Botschaft vom Gericht. Nachstehender Beitrag von Landesbischof Dr. Gerhard Maier soll und kann viel zur Klärung und zum besseren Schriftverständnis beitragen.

Zunächst zum Namen: Der Ausdruck "Jüngstes Gericht" ist zwar aus der Verkündigung Jesu abgeleitet, wird aber von Jesus - jedenfalls in den Evangelien - in dieser Form nicht gebraucht. Allerdings spricht Jesus vom "Letzten Tag" (Joh 6,39.40.44.54; 11,24; 12,48), was sich nach altem deutschen Sprachgebrauch auch mit "Jüngster Tag" übersetzen lässt. Sonst aber spricht er vom "Tag des Gerichts", wobei die frühere Lutherbibel an solchen Stellen mit dem Ausdruck "Jüngstes Gericht" übersetzte. Weil es sich so eingebürgert hat und weil man damit auch wichtige Dimensionen der biblischen Sprache wiedergeben kann, bleiben wir in diesem Abschnitt bei der Bezeichnung "Jüngstes Gericht".

Sodann zu dem, was gemeint ist. Der Name "Jüngstes Gericht" deutet schon an, dass es nach den biblischen Aussagen mehrere Gerichte gibt. Ein Gericht Gottes liegt zum Beispiel darin, dass er die verlorenen Menschen ihren eigenen Begierden überlässt, dass er sie - um es grob ausdrücken - "laufen lässt". In diesem Fall spielt sich das Gericht innerhalb der Geschichte ab, so dass der berühmte Ausspruch "Die Weltgeschichte ist das Weltgerichte" doch ein Körnlein Wahrheit enthält. Vgl. dazu Röm 1,24-31. Ein anderes Beispiel für ein solches sofortiges Gottesgericht innerhalb unserer irdischen Geschichte stellt das über Hananias und Saphira in Apg 5,1-11 dar.

Gerichte Gottes können sich ferner innerhalb der gewöhnlichen Geschichte, aber doch nach langen Zeiträumen und nach dem Ableben ganzer Generationen ereignen, also keineswegs plötzlich. Oft sind solche Gerichte lange angekündigt und durch Zeiten der göttlichen Geduld hinausgeschoben. Dazu zählt zum Beispiel das Babylonische Exil, das andeutungsweise schon in der Tora (5 Bücher Moses) und später dann bei den Propheten angekündigt wurde (vgl. 3.Mo 18,28; 26,33-39; Jer 25,1-71; 29,1-14).

Wendet man sich nun der Endzeit zu, dann enthüllen uns Jesu Verkündigungen, die Briefe der Apostel und die Johannesoffenbarung wiederum verschiedene Gerichtsabläufe. Eines dieser Gerichte wird z.B. dann stattfinden, wenn Jesus wiederkommt. Dies ist das Gericht über seine Gemeinde, das mit dem allgemeinen Weltgericht bzw. Jüngsten Gericht nicht verwechselt werden darf (Mt 25,14-30; Lk 19,12-27; 1.Kor 15,23; 2.Kor 5,10; vgl. 1.Petr 4,17). Um den besonderen Charakter dieses Gerichtes zu unterstreichen, sprechen manche Ausleger von einem "Preisgericht". Hier liegt aber das Missverständnis nahe, dass es nur noch um die Art der Belohnung, des "Preises", geht und nicht mehr um die Frage: Annahme oder Verwerfung? Ein Blick auf Mt 24,48-51; 25,24-30 und 1.Kor 9,27 lehrt jedoch, dass es bei diesem Gericht über die Gemeinde durchaus auch Verdammnis-Urteile gibt.
Ein zweites endzeitliches Gericht findet über den Antichristen und den falschen Propheten statt (Offb 19,17-20; 2.Thess 2,8).
Ein drittes endzeitliches Gericht trifft nach dem Ablauf der letzten Rebellion den Teufel (Offb 20,10).

Erst dann findet das letzte, das "Jüngste Gericht" statt (vgl. Mt 25,31-46; 1.Kor 15,24-26; Offb 20,11-15). Hier werden alle gerichtet, die bis dahin nicht gerichtet worden sind. Dazu zählen: alle Menschen, die nicht im Glauben an Jesus verstorben sind und die sich auch nicht durch die Predigt Jesu im Totenreich (1.Petr. 3,19; 4,6) bekehrt haben; der Tod und das Totenreich (Offb 20,14; 1.Kor 15,26), die Anhänger Satans bei der letzten Rebellion; alle Menschen, die im tausendjährigen Reich verstorben sind. Da sich darunter auch echte Gläubige befinden (s. oben), können auch beim Jüngsten Gericht Menschen dabei sein, die im Buch des Lebens stehen und gerettet werden (Offb 20,15). Zu diesen Geretteten werden diejenigen hinzukommen, die - ohne Gläubige im Vollsinn gewesen zu sein - den Jüngern Jesu Gutes getan oder die Sache des Reiches Gottes gefördert haben (vgl. Mt 10,41+42; 25,27.40).

Wir sollten allerdings nicht in alle Geheimnisse des Reiches Gottes und auch nicht in alle Geheimnisse seiner Gerechtigkeit hineinblicken wollen. Sobald man anfängt, über diese Dinge zu meditieren oder gar zu spekulieren, sagt Jesus zu uns: "Es kommt darauf an, ob du gerettet wirst" - so wie er den Nikodemus aus den allgemeinen Lehrsätzen in die existentielle Frage hereinholte, ob er denn wiedergeboren und gerettet werden könne (Joh 3,1-3). Ebenso wie Karl Hartenstein sollten wir "das Wie der Wege Gottes im einzelnen" offen lassen. Johann Albrecht Bengel hat die Gemeinde Jesu nachdrücklich daran erinnert, dass "manches auf die Heimkunft gespart" bliebe, das heißt, dass sich manches erst in der Ewigkeit enthülle.

Über das Jüngste Gericht lesen wir in Offenbarung 20,11-15 folgendes: Der Weltenrichter nimmt Platz auf seinem Thron. Nach Mt 16,27; 25,31-41; Joh 5,24-30; 1.Kor 15,24-26 kann dies nur Christus sein. Wenn also die christliche Kunst in allen Jahrhunderten Christus als den Weltenrichter dargestellt hat, hat sie dies in Übereinstimmung mit der Bibel getan. Der Thron ist "groß" und "weiß". Diese Attribute besagen, dass sich niemand seinem Gericht entziehen kann ("groß" = allumfassend) und dass sein Wort alles entscheidet ("weiß" = Farbe der unüberwindlichen göttlichen Herrlichkeit). Vor dem Angesicht des richtenden Christus hat weder die Erde noch der Himmel Bestand. Es heißt dort: "sie flohen vor seinem Angesicht". Da "Himmel und Erde" zusammen die ganze Schöpfung bezeichnen (1.Mo 1,1), verschwindet die gesamte bisherige Schöpfung. Sie wird auch nicht wiederkehren ("es wurde keine Stätte für sie gefunden"). Warum? Weil diese alte Schöpfung von der Sünde des Menschen beschmutzt ist, gewissermaßen getränkt von der Sünde (vgl. 1.Mo 4,10; Hi 4,18; 15,15; 25,5). Sie ist vom Fluch getroffen worden (1.Mo 3,17+18). Ja, selbst der Himmel wurde zum Ort der Rebellion, als Satan und seine Engel von Gott abfielen (1.Mo 6,1-4; Lk 10,18; 2.Petr 2,4; Jud 6; Offb 12,1-9). Deshalb verkündigen das Alte wie das Neue Testament ein Aufhören dieser alten, sündengeprägten Schöpfung (vgl. Jes 34,4; 65,17; 66,22; 2.Petr 3,7.12.13). Halten wir fest: Das Jüngste Gericht ist ein Universalgericht über die gesamte Schöpfung. Der Richter Christus spricht dabei das Urteil, dass die bisherige Schöpfung enden muss. Das bedeutet zugleich: alles Irdische vergeht.

Doch nun sammeln sich die Toten um den Thron des Weltenrichters. Hier versinken die menschlichen und irdischen Rangordnungen und Werturteile. Denn der Seher der Offenbarung schreibt davon, dass alle Toten, "groß und klein", vor Christus erscheinen müssen. Hier zählt nur noch, in welchem Verhältnis sie zu Gott gestanden haben. In einem grandiosen Bild erfahren wir, wie sich alle Warteräume der Toten leeren: "das Meer gab die Toten heraus, die darin waren, und der Tod und der Hades gaben die Toten heraus, die darin waren". Wo auch immer sie verstorben sind - im "Meer" oder auf dem Land - in welchen Zeiten sie auch immer verstorben sind, in welchen Warteräumen und in welchem Zwischenzustand sie sich auch immer befunden haben - der "Hades" ist sehr wahrscheinlich der Aufenthaltsort der gottlos Verstorbenen (Lk 16,23) -, alle stehen sie jetzt vor dem Thron Christi. Christus hat sie gerufen (Joh 5,28+29). Da konnte sie kein Tod und kein Hades mehr zurückhalten. Sie kommen auf seinen Ruf hervor, wie einst Lazarus aus dem Grabe kam (Joh 11,43+44). Da wird nicht mehr diskutiert. Da wird nicht mehr gefragt, wer damit einverstanden ist oder wer es will. Da wird es um unwiderstehliche Ereignisse gehen und nicht mehr um menschliches Für-wahr-Halten. Unser aller Leben mündet am Richterstuhl Jesu Christi.

Der Weltenrichter hat einen festen, gerechten Maßstab, nach dem er richtet. Johannes zeigt uns diesen Maßstab im Bild der "Bücher, die aufgetan (geöffnet) wurden". Diese Bücher erscheinen schon in der Prophetie Daniels (Dan 7,10). Dem Zusammenhang nach zu schließen, handelt es sich um Gerichtsbücher. Wer dort eingetragen ist, wird verurteilt und verworfen. Ihnen gegenüber befindet sich "ein anderes Buch", eins von ganz anderer Art. Dieses ganz andere Buch nennt die Bibel das "Buch des Lebens". Es kommt schon sehr früh vor, nämlich in der Zeit des Mose (2.Mo 32,32+33) und wird dann immer wieder erwähnt: (Ps 69,29; Jes 4,3; Dan 12,1; Mal 3,16; Lk 10,20; Phil 4,3; Hebr 12,23; Offb 3,5; 13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27). Wer im "Buch des Lebens" steht, wird beim Jüngsten Gericht freigesprochen und für alle Ewigkeit in die Neuschöpfung aufgenommen (Offb 20,12.15; Dan 12,1).

Wer diesen Abschnitt der Johannesoffenbarung liest, sieht sich vor zwei Fragen gestellt.
Die erste Frage lautet: Was ist das "Buch des Lebens"? Es fällt auf, welche Betonung die Worte "geschrieben" und "Buch" in Offb 20,12-15 und überhaupt im Zusammenhang mit der göttlichen Offenbarung haben (2.Mo 24,12; 31,18; 32,15+16; 34,27+28; 5.Mo 4,13; 5,22; 9,10; 10,1-5; 31,24-27). Es ist deshalb mit der Möglichkeit zu rechnen, dass es so etwas wie eine himmlische "Urschrift" gibt, die den menschlichen Propheten als "Buch" erscheint. Daneben steht die andere Möglichkeit, dass "Buch" ein Ausdruck für das unfehlbare Gedächtnis Gottes ist. Als der Allmächtige kennt er unser ganzes Leben, noch bevor wir geboren werden (Ps 139,16), und weiß auch schon, wer bis zum Schluss im Glauben bleibt (Mt 24,13; 2.Tim 4,7; Offb 3,5). Solche Menschen trägt er dann in das "Buch des Lebens" ein.

Die zweite Frage, die beim Lesen der Johannesoffenbarung und anderer ähnlicher Bibelabschnitte entsteht, lautet: Was sind die "Werke", die hier beim Jüngsten Gericht eine entscheidende Rolle spielen? Es heißt ja in Offb 20,12+13: "Die Toten wurden gerichtet nach ihren Werken" (vgl. Joh 5,29; 2.Kor 5,10). Was also ist ein solches "Werk"? Wird am Ende doch die Werkgerechtigkeit siegen? Wird es also darauf ankommen, dass wir mehr gute als böse Werke getan haben? Der Schlüssel zur Antwort liegt in Joh 6,29, wo Jesus sagt: "Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat". Das entscheidende Werk ist also der Glaube an Jesus. Wer an ihn glaubt, der hat das ewige Leben (Joh 3,16; 11,25; 1.Joh 5,12). Es kann sein, dass alles andere, was wir getan haben, in der unbestechlichen Prüfung des göttlichen Gerichts vergeht, sich als falsch erweist. Wer aber wirklich an Jesus glaubt, wird wie ein Brandscheit "durchs Feuer hindurch gerettet", auch wenn alle seine einzelnen Werke im Feuer des Gerichts "verbrennen" (1. Kor 3,13-15).

Das Jüngste Gericht endet mit einem rettenden Freispruch oder mit einem Schuldspruch. Das Verdammungsurteil trifft auf jeden Fall den Tod und die Totenwelt (Hades), die demnach abgefallene Engel sind (Offb 20,14; vgl. 20,10). Das Verdammungsurteil trifft ferner alle Menschen, die nicht im Buch des Lebens geschrieben stehen (Offb 20,15). Die Verdammnis wird durch die Worte "geworfen in den feurigen Pfuhl" (Lutherbibel) oder "geworfen in den Feuersee" (Neue Jerusalemer Bibel, Revidierte Elberfelder Bibel) zum Ausdruck gebracht. "Geworfen" bezeichnet die Gottesferne. Wer hier gott-los gelebt hat, wird auch in der Ewigkeit Gott los. Der "Feuersee" ist sachlich dasselbe wie die "Feuerhölle" oder "Gehenna des Feuers", von der Jesus in Mt 5,22; 18,9 spricht. Diese Ausdrücke erinnern an das Gericht über Sodom und Gomorra (1.Mo 19,24-29) und deuten die Qual des Gewissens und der Trennung von Gott an.
Jeder aufmerksame Leser bemerkt, dass das Jüngste Gericht in der Bibel für unser Empfinden eher zu knapp als zu breit geschildert wird - übrigens ganz im Unterschied zum Koran. Schon gar nicht werden Qual und Verdammnis ausgemalt. Sie als Tatsachen der Zukunft zu leugnen, wäre töricht. Aber viel wichtiger ist in der Bibel die Frage, wie wir gerettet und freigesprochen werden.

Aus: Er wird kommen - Was die Bibel über die Wiederkunft Jesu sagt. R. Brockhaus-Verlag, Wuppertal