Grundwort Gnade

Zur Einführung: Einige Vorbemerkungen zu dem Wort „Gnade“
In dem Wort „Gnade“ wird die ganze Geschichte des Heils Gottes in Jesus Christus zusammengefasst.
Gnade ist eines der häufigsten Worte in der Bibel (siehe Konkordanz), besonders in den Psalmen und bei Paulus. Zugleich ist es in unserer heutigen alltäglichen Umgangssprache ein relativ seltenes Wort (z.B. Gnadengesuch, begnadigt, ein begnadeter Künstler).
Martin Luther übersetzt die Worte „chen“ und „chäsed“ aus der hebräischen und „charis“ aus der griechischen Sprache mit „Gnade“, oft auch mit „Güte“. Sehr oft sind diese Worte in der hebräischen Sprache mit „emet“ oder „emuna“, in der griechischen Sprache mit „aletheia“ verbunden, d.h. mit dem Wort „Treue“. So begegnet uns immer wieder die Zusammenstellung von „Gnade und Treue“.
Das deutsche Wort „Gnade“ kann inhaltlich nicht die ganze Füllung dieses biblischen Wortes wiedergeben. Christoph Oetinger sagt in seinem Wörterbuch (1776): „Gnade heißt eigentlich ... Freiwilligkeit, Gutherzigkeit, freie Neigung zu schenken und zu geben, ohne dass einem jemand etwas zuvor gegeben“. In dem Wort Gnade schwingt der Gedanke des Herabneigens, des Herunterbeugens mit. In Spr 16,15 begegnet uns eine solche Umschreibung der Gnade: „Wenn des Königs Angesicht freundlich ist, das ist Leben, und seine Gnade ist wie ein Spätregen“. Ähnlich auch Ps 40,1: „Er neigte sich zu mir“. Gnade meint eigentlich: Gott kommt mir nahe.
Was die Gnade, die uns in Jesus Christus begegnet, bedeutet, könnten wir in der Gemeinschaftsstunde etwa an Eph 2,4-10 besprechen (siehe Teil I). Dort begegnet uns zur Beschreibung der Gnade das Wort Gabe, Geschenk.
In der lateinischen Übersetzung der Bibel wird Gnade mit „gratia“ übersetzt. Daher kommt das deutsche Fremdwort „gratis“ - etwas umsonst bekommen.
Gnade ist die Bereitschaft, für einen anderen da zu sein. So hat sich Gott schon Mose vorgestellt (2Mo 3,12.14): „Ich werde sein, der ich sein werde“ im Sinn von: „Ich werde mit dir sein“. Paulus hat dies in der ihm eigenen größtmöglichen Kürze in Röm 8,31 so ausgedrückt: „Ist Gott für uns“. Dieses göttliche „Für-uns-Sein“ aus ewiger, unbegreiflicher Liebe ist der Inbegriff der Gnade.
Paulus fasst in dem Wort „Gnade“ das ganze Heilsgeschehen Gottes in Jesus Christus zusammen. Von dort her ist Martin Luther geprägt mit seinem „Allein aus Gnade“ (sola gratia). Gnade ist in der Bibel verbunden mit der Treue, der Barmherzigkeit und dem Bund Gottes. Diese Treue Gottes in der Verbindung mit Gnade meint vor allem die Zuverlässigkeit, Beständigkeit Gottes bis hin zu 2Tim 2,13: „So bleibt er doch treu.“
Es erfordert viel Weisheit, Geduld, Gebet, Nachdenken, Hineinhören in das heutige Leben, um dem modernen Menschen das Wort „Gnade“ inhaltlich nahe zu bringen. Er hält sich wie einst die Pharisäer und Schriftgelehrten vor Gott für gerecht. In seinem emanzipierten, selbständigen, vom Humanismus und Idealismus geprägten Denken geht er davon aus, dass der Mensch gut ist und deswegen keine Gnade braucht. Viele haben überhaupt kein Verhältnis mehr zu Gott. So ist es nicht leicht, deutlich zu machen, dass wir wirklich vor Gott Gnade brauchen, dass wir in seinem jüngsten Gericht ohne Gnade nicht bestehen können, dass wir ohne Gnade verlorene Menschen sind. Die lutherische Frage: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ ist heute nicht mehr jedem verständlich. Dies alles müssen wir bedenken, wenn wir heute von „Gnade“ sprechen.
Trotzdem wollen wir durch die Behandlung dieses Grundwortes „Gnade“ zu dem frohmachenden reformatorischen „Allein aus Gnaden“ helfen.

I. Die Gnade hat einen Anfang
Mitten in der Geschichte der von Gott geschaffenen, aber dann von Gott abfallenden Menschheit beginnt die Geschichte der unbegreiflichen Gnade Gottes.
In 1Mo 6,3.5-8 steht: „Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden ..., da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden ..., und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde ... Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn.“ Hier begegnet uns zum ersten Mal in der Bibel das Wort Gnade. Hier begegnet uns auch zum ersten Mal das Geheimnis der göttlichen Erwählung, dass Gott aus der großen Schar der dem Gericht verfallenen Menschheit sich einem zuneigt und mit ihm seine Geschichte der rettenden und weiterführenden Gnade beginnt.
Hier begegnet uns aber auch das die ganze Bibel und Geschichte Gottes mit der Menschheit durchziehende Gegenüber von Sünde und Gnade. Paulus hat dies in dem Satz aus Röm 5,20 so zusammengefasst: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden.“
Mitten in der Zeit maßloser Unterdrückung des Volkes Gottes in Ägypten setzte Gott mit der Berufung des Mose neu mit seiner Geschichte der Gnade ein. Zu ihm sagt dieser Herr auf dem langen Zug durch die Wüste: „Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden“ (2Mo 33,17). Zugleich offenbart er ihm seinen Namen, der ewig mit der Gnade verbunden ist: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“ (2Mo 34,6, mit allen Parallelen). Durch diese Gnade bekam Mose die Kraft, trotz aller Wirrnisse das Volk Israel bis an die Tore des verheißenen Landes Kanaan zu führen.
Dann geht Gottes Weg der Gnade weiter mit seinem Volk und seiner Menschheit in einer Zeit der harten Unterdrückung des Volkes Israel durch die Römer.
Der Engelfürst Gabriel wird in Nazareth zu der Jungfrau Maria gesandt und grüßt sie: „Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden“ (Lk 1,30). Dann spricht der Engel von Jesus.
Zur Geschichte der Gnade Gottes gehört Jesus, der Sohn Gottes, der König des kommenden Reiches Gottes. Das Wort Gnade taucht im irdischen Leben, Reden und Wirken Jesu, wie es uns die Evangelien berichten, kaum auf. Aber in seinem Dasein, Leben, Wirken und Leiden ist Jesus die Gnade Gottes in Person.
Was das Wort „Gnade“ meint, sehen wir anschaulich in dem, wie Jesus auf Menschen zugegangen ist: wie er Kranken, Sündern, Besessenen, Kindern, Frauen, Hungernden, seinen Jüngern, seinen Gegnern, dem römischen Statthalter begegnet ist.
In Jesus ist Gottes Gnade mitten unter uns Menschen da. Johannes hat das in Joh 1 so zusammengefasst: „Im Anfang war das Wort ..., und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit (Treue). Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit (Treue) ist durch Jesus Christus geworden.“ Jesus ist hier das Gegenüber von Mose, und die Gnade ist das Gegenüber zum Gesetz. Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen, die Jesus aufnehmen und dadurch Gottes Kinder werden, ist nicht mehr durchs Gesetz, sondern durch die Gnade bestimmt (Joh 1,12). Der Apostel Paulus ist von seiner eigenen Lebensgeschichte her, mit der ihn Jesus als ehemaligen Feind angenommen und in den Dienst des Evangeliums gestellt hat, in besonderer Weise der „Prediger der Gnade“ geworden, des „Wortes seiner Gnade“ (Apg 20,32).
Er sieht sein neues Leben seit Damaskus als Geschenk der Gnade. So schreibt er es in seinem Brief an die Epheser (2,4-10): „Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr selig geworden“. Hier stellt er die Barmherzigkeit, die Liebe und die Gnade zusammen, die uns zu einem neuen Leben mit Christus helfen. In den folgenden Versen macht Paulus deutlich, dass uns seine Gnade mit Christus hineinstellt in ein von der Auferstehung, von der himmlischen Welt und kommenden Herrlichkeit bestimmtes Leben. Die Gnade gibt die Perspektive nach vorne und gehört mit der Hoffnung zusammen. Gnade ist nicht nur ein augenblicklicher juristischer Rechtsakt, sondern bedeutet die jetzt im Glauben beginnende und einst im Schauen sich vollendende Seligkeit. Gnade meint Rettung durch Jesus Christus.
Noch einmal schreibt Paulus davon ganz persönlich in 1Tim 1,12-17. Gnade zielt auf eine ganz persönliche Geschichte Gottes mit uns, die zum Dank und zur Anbetung führt (das griechische Wort für Gnade „charis“ bedeutet auch „Dank“). Der Anfang dieser Gnadengeschichte liegt weit vor der Zeit unseres Lebens. Das fasst Paulus in 2Tim 1,9 so zusammen: „Er hat uns selig gemacht und berufen ... nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Jesus Christus vor der Zeit der Welt.“
Immer neu betont er, dass wir nicht Werke, gute Werke, fromme Werke tun müssen, damit uns Gott gnädig wird. Es ist umgekehrt. Das schreibt er in Eph 2,10: „Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.“ Die Gnade führt zu einem Leben in guten Werken, in der Liebe, im Dienen, in Werken, die Gott für unser Leben im Voraus geplant, „zuvor bereitet“ hat.
In der Zeit der Geschichte des Alten Bundes wird diese Gnade Gottes im Glauben oft erfahren in den geschichtlichen Führungen Gottes. So sagt Elieser, der vertraute Knecht des Abraham, bei der Erfüllung seines nicht ganz einfachen Auftrags, nach einer Braut für Isaak zu suchen, die er in Rebekka findet: „Der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben“ (1Mo 24,56).
Manfred Siebald hat das in einem seiner Lieder so gefasst: „Geh unter der Gnade“.
„Aus Gnade seid ihr selig geworden“ ist das eigentliche Thema des Neuen Bundes. Und diese Gnade geht von Gott aus und hat in Gott ihren Anfang.

II. Die Gnade hat einen Höhepunkt
Gottes Gnade und Liebe ist nicht nur eine Gesinnung Gottes uns Menschen gegenüber geblieben, sondern sie ist Realität, Tat geworden in der Sendung seines Sohnes in diese Welt und Menschheit hinein (vgl. Joh 3,16).
Paulus hat das zusammengefasst in Röm 8,32: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (hier steht das Zeitwort von Gnade). Der lebendige Gott, der uns liebt, will uns in seinem Mensch gewordenen Sohn seine Gnade persönlich offenbaren.
Die Gnade Gottes kann uns auch in seiner Schöpfung in der Natur begegnen, auch in der Geschichte. Aber heilbringend (Tit 2,11) begegnet sie uns in der Person Jesu Christi, dem Sohn Gottes. In Jesus Christus erscheint Gottes Gnade in ihrer ganzen Fülle (Joh 1,16). Jesus Christus ist ganz voll von Gnade. In einem Lied heißt es: „Jesus ist kommen, die Quelle der Gnaden“ (GL 1,7).
Nun ist es das Erstaunliche, dass wir Menschen, auch wenn wir von Hause aus alle Sünder sind, zu Jesus kommen dürfen, ihn suchen, uns ihm zuwenden, ihm unsere Sünden bekennen dürfen. Das wird alles in dem Wort „Buße“ zusammengefasst. Rechte Buße ist kein trauriges Geschäft, sondern sie führt uns zu der Freude, die uns teilgibt an der Gnade Gottes in Jesus Christus.
Damit sind wir am Höhepunkt der Gnade Gottes. Die Gnade Gottes begegnet uns in Jesu Kreuz, in dem Gekreuzigten auf Golgatha. Johannes der Täufer hat von ihm gesagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Joh 1,29). Jesus Christus trug als der Sohn Gottes am Kreuz unsere verdiente Sündenstrafe. Wie schwer dieses Leiden war, wird uns deutlich an den sieben Worten Jesu am Kreuz.
Gott und seinen Sohn Jesus Christus hat dieser Weg mit dem Höhepunkt am Kreuz alles gekostet. Dieses Hingeben seines Sohnes in die Hände der Menschen ist der heißglühende Punkt der Liebe und Gnade Gottes. Hier begegnet uns, wie man heute auch sagen kann, „Gnade pur“. Darum geht uns Menschen unter dem Kreuz am stärksten auf, was Gottes Gnade ist und will.
Hier unter dem Kreuz und dem Aufsehen zu Jesus, dem Gekreuzigten und dann Erhöhten, entsteht in uns durch Gottes Wort und Gottes Geist der rettende Glaube an diesen Jesus Christus. Da können wir die Gnade Gottes fassen und zur Gewissheit unseres Heils kommen.
In der Vergebung, die wir durch Christi Tod und Auferstehung erlangen können, besteht der wesentliche Inhalt der Gnade Gottes. Ohne Kreuz Jesu und abseits vom Kreuz Jesu gibt es für uns Menschen keine rettende Gnade. Das Kreuz Jesu Christi ist im ganzen Neuen Testament die grundlegende und unerlässliche Voraussetzung, um an der Gnade Gottes teilzuhaben.
Mit der Gnade sind die Gnadengaben Gottes (charismata) für die Gemeinde und den einzelnen Jünger gegeben. Die größte Gnadengabe ist die Liebe (1.Kor 13,13).
Die Gnade führt zum Dienst der Liebe an unseren Mitmenschen. Aus der Gnade wächst ein Leben im Dienst heraus. Gnade führt zum Dienst und Dienst ist Gnade. So hat Paulus im Auferstehungskapitel 1Kor 15 (V. 10) von sich selbst geschrieben: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“.
Zu diesem „Höhepunkt“ der Gnade gehört „buchstäblich“ auch das Wort „Gnadenthron“. Das war in der Zeit des Alten Bundes in der Stiftshütte und im Allerheiligsten des Tempels der Deckel auf der Bundeslade, von den Seraphim umgeben. Es war der Ort der heiligen Gegenwart Gottes. In Röm 3,21-25 stehen bei Paulus die entscheidenden Sätze über die Rechtfertigung des Sünders vor Gott durch die Gnade und durch den Glauben. Er schreibt dort (V. 23): „Sie sind allesamt Sünder ... und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne“ (in der früheren Lutherübersetzung steht hier wörtlich übersetzt: zu einem Gnadenstuhl).
In 3Mo 16,12-15 ist von diesem Gnadenthron die Rede. Der Priester soll etwas vom Blut des Stieres nehmen und es mit seinem Finger gegen den Gnadenthron sprengen. Solches soll geschehen am jährlichen großen Versöhnungstag (vgl. auch 2Mo 25,17-22).
Nun ist im Neuen Bund Jesus Christus der Gekreuzigte, Auferstandene und Erhöhte für seine Gemeinde und sein Volk dieser Thron der Gnade (Hebr 4,16). In Jesus haben wir Gemeinschaft mit Gott. Beides wird an diesem Gnadenthron in Jesus, dem Gekreuzigten und Erhöhten, deutlich: Gott nimmt die Sünde ernst. Sie kann nur durch das Blut des Lammes getilgt werden. Er ist aber nicht nur der richtende Gott, sondern auch der vergebende in seiner rettenden Liebe für den, der an Jesus aufgrund des Evangeliums glaubt.
In Hebr 4,12 wird von Jesus, dem großen Hohenpriester, gesagt, dass er mit uns sündig Werdenden mitleiden kann, weil er selbst versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum werden wir eingeladen: „Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“ Jesus als dieser Gnadenthron ist in der himmlischen Welt immer für uns da, und wir dürfen uns ihm in Demut (vgl 1Petr 5,5; Spr 3,34) und Ehrfurcht, aber auch in Zuversicht im Gebet nahen.

III. Die Gnade hat ein Ziel
Die Gnade Gottes zielt nicht nur auf Einzelne oder auf ein auserwähltes Volk, sondern zu dieser Gnade gehört eine unerhörte Weite, die Weite des Schöpfers und des Allmächtigen. Die Gnade Gottes hat nichts Enges an sich. Schon in Ps 108 begegnet uns die Aussage (V. 5): „Denn deine Gnade reicht, so weit der Himmel ist, und deine Treue, so weit die Wolken gehen“ (vgl. auch Ps 103,11). Zur Gnade gehört auch die Ewigkeit. In Ps 89,2 lesen wir: „Für ewig steht die Gnade fest; du gibst deiner Treue sicheren Grund im Himmel.“ Jes 54,8: „... mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser“ (vgl. auch Ps 103,17; 100,5).
Gottes Gnade hat alle seine Menschen, auch heidnische Menschen, auch Menschen ohne Gott im Auge. In Tit 2,11 lesen wir: „Es ist erschienen die heilbringende Gnade Gottes allen Menschen.“ Freilich: Es gilt auch, diese Gnade anzunehmen und an sich wirken zu lassen. Der Schächer am Kreuz, der wusste, dass er mit Recht den Tod verdient hat, wendet sich an Jesus: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,41-43).
Weil Jesus zur Rechten Gottes thront und der in Herrlichkeit wiederkommende Herr ist, ist uns mit der Gnade auch eine große Hoffnung und ein ewiges Ziel gegeben.
Paulus schreibt darum in Röm 5,2: „Durch Jesus Christus haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen (der „Gnadenstand“ ist unser Lebensbereich), und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.“
Die Gnade macht uns zu Erben des ewigen Lebens (Pfarrer Fritz Rienecker „Das Schönste kommt noch“). In Tit 3,7 lesen wir: „Damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unserer Hoffnung“. Als Begnadigte gehen wir „aus Gnaden“ der ewigen Herrlichkeit entgegen, die mit der Auferstehung verbunden ist. Das Ziel der Gnade ist auch, dass wir einmal Jesu gleich werden und er der Erstgeborene unter vielen Brüdern ist (Röm 8,29 u.a.).
Das letzte Ziel der Gnade begegnet uns immer neu in den Lobgesängen der Offenbarung. Das Ziel der Gnade Gottes ist die Ehre Gottes, das Lob Gottes und die Anbetung Gottes. „...Siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm ..., und alle Engel standen rings um den Thron ... und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen“ (Offb 7,11f). Auf diesem Weg der Anbetung kehrt die Gnade zu Gott zurück und kommt damit an ihr Ziel.

Zum Schluss einige seelsorgerliche Anmerkungen:
Gnade ist der Lebensbereich, in dem der täglich lebt, der an Jesus Christus glaubt. In Ps 109,21 bekennt der Beter: „Deine Gnade ist mein Trost“ (vgl. Ps 119,76). Über unserem Leben steht als feste Tatsache und tägliche Realität:
Eph 2,8: „Aus Gnaden seid ihr selig geworden“ oder Röm 5,1: Nachdem wir durch den Glauben Frieden mit Gott haben durch Jesus Christus, „haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen“ (vgl. auch Kla 3,23ff). In der Glaubensgemeinschaft mit Jesus, dem gekreuzigten und erhöhten Herrn, dürfen wir täglich aus seiner Fülle und in jeder Lage auch bei jedem Versagen „Gnade um Gnade nehmen“ (Joh 1,16) und uns in den schwersten Führungen an Ps 13,6 halten:
“Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist.“ In allen Anfechtungen dürfen wir uns an das Wort Jesu an den Apostel Paulus halten: „Lass dir an meiner Gnade genügen“ (2Kor 12,9).
Es gibt auch einen Missbrauch der Gnade. Bonhoeffer spricht in seine Kirche hinein mit großem Ernst von der „billigen Gnade“.
Hebr 12,15 ermahnt: „Sehet darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume.“ Und dieser Brief warnt in Kap. 10,29: „Eine wie viel härtere Strafe wird der verdienen ..., der den Geist der Gnade schmäht.“ Das gilt auch für den, der die Zeit der Gnade (2Kor 6,2) nicht nützt (vgl. auch Röm 6,1; Jud 4).
Deswegen ermahnt Paulus die Christen in Antiochien: „dass sie bleiben sollen in der Gnade Gottes“ (Apg 13,43).
Die Bibel kennt auch immer wieder das Bitten um Gnade (Ps 119, 41 u.a.) und das Wachstum in der Gnade (2Petr 3,18).
Über allem, was in dieser Welt und in unserem Leben geschieht, auch über allen schweren und unbegreiflichen Wegen dürfen wir uns an die Zusage Gottes halten in Jes 54,10: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“
Gnade und Treue ist bei Gott eins. Es ist eigenartig, dass gerade Petrus, der den tiefen Fall der Verleugnung erlebt hat, seine Briefe mit dem Gruß beginnt: „Gott gebe euch viel Gnade“ (1Petr 1,2; 2Petr 1,2) und dass gerade er ermahnt: „Setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade“ (1Petr 1,13). Auch Paulus beginnt und schließt seine Briefe immer mit dem Wunsch der Gnade.
Von daher verstehen wir die alte Sitte in unseren Gemeinschaften, dass wir zum Beschluss singen: „Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen“ (2Kor 13,13).
Es gibt in unseren Gesangbüchern und Liederbüchern viele Lieder über die Gnade. So können wir auch am Schluss dieser Stunde singen: „Die Gottesgnad alleine steht fest und bleibt in Ewigkeit“ (GL 248,4).

Pfarrer i.R. Walter Schaal, S-Degerloch

Impulse zur Veranschaulichung für Kinder und Erwachsene:
- Beispielgeschichte "Ein Leben für ein Leben" finden Sie auf der nächsten Seite.

Ein Leben für ein Leben

Luis und Sebastian waren Zwillinge. Sie wuchsen vor vielen, vielen Jahren in einem kleinen weißen Haus auf, das außerhalb der Mauern eines spanischen Bergstädtchens lag. Ihre Eltern waren gestorben, hatten ihnen aber ein bescheidenes Erbe hinterlassen. So konnten die Jungen weiter in ihrem alten Haus wohnen. Sie glichen sich so sehr, dass keiner sie auseinander halten konnte. Im Laufe der Jahre entwickelten sich die beiden Jungen allerdings sehr unterschiedlich. Sebastian erlernte einen guten Beruf. Er war freundlich, zuverlässig und fleißig. Alle Leute hatten ihn gern. Luis dagegen war faul und hatte keine Lust zu arbeiten. Er wollte nur sein Vergnügen haben und verbrachte jeden Abend beim Spiel in der Schenke. Oft kam er erst am frühen Morgen zurück. Vergeblich bat Sebastian ihn, sich von seinen schlechten Gefährten zu trennen und ein neues Leben anzufangen. Luis lachte ihn nur aus.
Es war spät in einer Nacht. Der Vollmond beleuchtete die weißen Mauern der Stadt. Sebastian saß, von einer seltsamen Unruhe getrieben, am Fenster. Seine Augen wanderten immer wieder das helle Band der Straße entlang, das zum Stadttor führte. Luis war wie gewöhnlich noch nicht heim gekehrt. Sebastian erblickte die rennende Gestalt, noch bevor er ihre Schritte hörte, und eilte zur Tür. Luis war allein und stürzte an ihm vorbei ins Haus. Im Licht der Lampe sah Sebastian sein schneeweißes Gesicht und seine zerrissenen und blutgetränkten Kleider. Luis zitterte so, dass er kaum sprechen konnte.
„Oh, Sebastian!“ stieß er hervor. „Versteck mich! Sie sind hinter mir her, und dann ist es mit mir zu Ende.“
„Was soll das heißen?“ fragte Sebastian und rannte zum Fenster. Tatsächlich, da kam eine Gruppe von Leuten aus dem Stadttor. Sie rannten ... kamen auf ihr Haus zu.
„Wir haben zu viel getrunken...“ jammerte Luis. „Es gab Streit ... Ich wollte nicht ... Er kippte nach hinten und war tot. Oh, Sebastian, versteck mich! Was soll ich denn bloß machen?“
Sebastian überlegte nicht lange. Schon riss er sich seine Kleider vom Körper. Er hatte keinen Augenblick zu verlieren. „Hier, zieh diese Sachen an und gib mir deine!“ befahl er. „Mach schon! Hör auf zu jammern! Und jetzt hinaus mit dir – benutze die Hintertür und verschwinde im Bergland! Lass dich nicht so bald wieder hier sehen...! Nun lauf schon, Bruder, lauf!“
Es war höchste Zeit. Schon waren an der Haustür laute Rufe zu vernehmen. Einen Augenblick später stürzte der Nachtwächter der Stadt herein, gefolgt von einer aufgeregten Menschenschar. Vor Sebastian hielten sie an. Sebastian stand ganz still da. Er atmete schnell, sein Haar hatte er in Unordnung gebracht und sich Gesicht und Hände schmutzig gemacht. Er trug den blutbefleckten Mantel seines Bruders. Sie fesselten ihm die Hände und er leistete keinen Widerstand. Schweigend ließ er sich zum Gefängnis der Stadt führen. Ein paar Tage später gab es eine Gerichtsverhandlung und er wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt.
Fast alle Männer der Stadt drängten sich in den Gerichtssaal, um den gefangenen Mann zu sehen. Als die Verhandlung vorüber war und die Zuschauer in den Schenken saßen und den Fall diskutierten, da hieß es immer wieder: „Wie ruhig er da stand! Er sagte kein Wort zu seiner Verteidigung, bat nicht um Gnade, schien keine Angst zu haben. `Ihr habt selbst das Blut auf meinem Mantel gesehen´, sagte er. `Ich habe nichts zu meiner Entschuldigung vor zu bringen´.“
„Aber wo war eigentlich Sebastian, sein Bruder?“ fragten andere. „Warum war er nicht bei der Verhandlung? Seit jener Nacht ist er auch nicht mehr zur Arbeit erschienen. Schämt er sich seines Bruders so sehr, dass er ihn allein sterben lässt?“
Niemand wusste eine Antwort darauf, und wenige Tage später wurde Sebastian hingerichtet. Ein Leben für ein Leben.
Luis lebte viele Wochen lang zurück gezogen in einem kleinen Dorf hoch in den Bergen. Er tauschte seine Stadtkleider gegen ländliche Kleidung ein und arbeitete während der ganzen Erntezeit bei einem Bauern. Zuerst wagte er sich kaum aus seiner Unterkunft hinaus; Nacht für Nacht wachte er zitternd auf, weil er wieder von jener schrecklichen Mordnacht und von seinen Verfolgern geträumt hatte. Aber allmählich wurde er ruhiger. Er bereute bitter, dass er seinen Kameraden getötet hatte und sehnte sich danach, seinen Bruder wieder zu sehen. „Vielleicht haben sie inzwischen aufgehört, nach mir zu suchen“, dachte er. „Am nächsten Markttag will ich verkleidet in die Stadt hinunter gehen und versuchen, mit meinem Bruder zu sprechen.“
Er hatte sich einen Bart wachsen lassen und sich sein Gesicht dunkel gefärbt, so dass niemand ihn erkennen konnte. In seiner bäuerlichen Kleidung schloss er sich anderen an, die mit ihren Waren zum Markt zogen. Inmitten des Marktgetümmels versuchte er heraus zu finden, was inzwischen in der Stadt geschehen war. Vorsichtig brachte er das Gespräch auch auf den Mordfall, der sich vor einiger Zeit ereignet hatte.
„Ich habe gehört, dass der Mörder, dieser elende Kerl, entkommen ist“, sagte er. „Sucht man immer noch nach ihm? Oder hat man es aufgegeben?“
„Aufgegeben?“ fragte sein Gesprächspartner und blickte ihn überrascht an. „Unsere Polizei gibt nie auf! Sie haben ihn noch am selben Tag erwischt, ihm in der selben Woche den Prozess gemacht und zwei Tage später ist er hingerichtet worden. Die Gerechtigkeit hat gesiegt! Seltsam ist nur eines bei der ganzen Geschichte: Der Mörder hatte einen Bruder, und der ist am selben Tag verschwunden und seither nie wieder aufgetaucht. Manche sagen ...“
Aber Luis hörte nicht mehr, was manche sagten. Er stieß einen verzweifelten Schrei aus und rannte vom Marktplatz weg. halb blind von Tränen gelang es ihm irgendwie, das Gerichtsgebäude zu erreichen. Fast mit Gewalt verschaffte er sich Eintritt. Als der Richter erschien, um nachzusehen, was da für ein Lärm herrschte, fiel Luis ihm zu Füßen.
„Sie haben einen Unschuldigen hingerichtet!“ rief er immer wieder. „Ich bin´s gewesen, nicht mein Bruder. Lassen Sie mich jetzt auch hinrichten, denn wie könnte ich noch weiter leben?“
Der Richter zog sich zurück. Er führte einige lange Gespräche und kehrte dann zurück.
„Das Gesetz fordert ein Leben für ein Leben“, verkündete er. „Wenn dein Bruder unschuldig war, wie sollten wir das wissen? Sein Mantel war blutgetränkt und er brachte nichts zu seiner Verteidigung vor. Der Fall ist abgeschlossen. Geh, halte deinen Mund und sieh zu, dass du nicht wieder das Gesetz übertrittst.“
Als Luis sich abwandte, hielt ihn der Richter noch einmal zurück. „Einen Augenblick noch!“ sagte er plötzlich. „Bist du der einzige Bruder des Hingerichteten?“
„Ja, ja. Es gibt keinen anderen.“
„Dann habe ich einen Brief für dich. Der Gefangene hat ihn in großer Eile geschrieben und ihn mir anvertraut, bevor er gestorben ist. Ich hole ihn.“
Bald darauf saß Luis in dem alten Haus, in dem er und sein Bruder in der Kindheit und Jugend so viele schöne Stunden miteinander verlebt hatten. Er weinte und weinte. Die Sonne ging schon unter, als er endlich den Brief öffnete. Er war sehr kurz und Luis las ihn wieder und wieder, bis es zu dunkel war, um noch etwas zu erkennen und er ihn auswendig kannte.
„Mein lieber Bruder“, hieß es in dem Brief. „Heute morgen werde ich aus freiem Willen in Deinem blutbefleckten Mantel sterben. Nun beschwöre ich Dich, in meinem sauberen Mantel zu leben. Sei versichert, dass ich Dich liebe. Gott segne Dich. Sebastian.“
Luis begriff, was sein Bruder damit gemeint hatte. Der Taugenichts, der nur für sich selbst gelebt, ständig Streit gesucht und am Ende gar gemordet hatte, dieser Taugenichts sollte als tot gelten. Der Mann aber, der geliebt und gelitten und sich geopfert hatte, der sollte weiter leben. Ja, so sollte es sein. Luis saß da und dachte nach, bis die Morgendämmerung das Zimmer zu erhellen begann.
Dann erhob er sich und warf seine schmutzige Verkleidung ab. Er wusch sich und legte saubere Kleider an, wie Sebastian es getan hatte, und ging in den neuen Tag hinein.

Patricia St. John (aus: „So groß ist Gott“, BLB-Verlag)