Gewissen

Trotz aller Bemühungen des modernen Menschen, der sich gegen die angebliche Bevormundung wehrt, ist das Gewissen nicht totzureden. Es kann zwar zum Schweigen gebracht, aber nicht abgeschafft werden. Es gehört zum Menschsein wie die Tatsache, daß wir nur schwer allein sein können, daß wir uns nach Liebe und Freude sehnen u.a. Das Gewissen ist von jeher auch eine geistliche Größe. Oft genug ist zu hören, daß wir darin der Stimme Gottes begegnen. Deshalb müssen wir uns anhand der biblischen Aussagen und dessen, was uns das Verständnis des Gewissens erleichtert, darüber ausführlicher Gedanken machen.

Das Gewissen: ein Mitwisser

Wie die Vorsilbe "ge" im deutschen Wort Gewissen schon erkennen läßt, handelt es sich dabei um eine "Zusammenballung von Wissen". Genau das gleiche macht auch das griechische Wort deutlich (syneidesis), in dem sich die der deutschen Vorsilbe vergleichbare Vorsilbe "syn" findet. Am besten ist es als Mitwissen oder eben Gewissen zu übersetzen. Es fällt dadurch auf, daß es normalerweise unabhängig von unserem Denken oder Wollen sich bemerkbar macht, wie ein zweites Ich neben mich tritt und mein Tun und Lassen sowie meine Gedanken beurteilt. Ganz besonders meldet es sich dort, wo ich von der vorgegeben Ordnung abweiche.

Das schlechte Gewissen

1. Mose 3,1-13

Gleich am Beginn der Menschheitsgeschichte begegnen wir dem Gewissen. Solange der Mensch vor dem Sündenfall noch im Einklang mit Gott lebte, gab es kein Gewissen. Es gab ja nichts, auf das hin es sich hätte melden können. Aber mit dem Gongschlag des Sündenfalls ist es da. Zunächst macht es sich durch Scham bemerkbar. Die Menschen merkten, daß sie nackt waren, und suchten ihre Blöße zu bedecken. Dann kommt - nach der bitteren Erkenntnis, daß etwas eingetreten ist, was nicht mehr rückgängig gemacht werden kann  - die Furcht hinzu. Die Menschen verstecken sich vor Gott. Wahrscheinlich trug die Erinnerung an die Warnung Gottes dazu bei, nicht vom Baum in der Mitte des Gartens zu essen. Aber Furcht und Verstecken können nichts ändern - bis heute nicht. Und bis heute haben wir nichts daraus gelernt und suchen uns nach wie vor zu verstecken, wenn wir etwas angestellt oder falsch gemacht haben - und sei es nur die Furcht vor Blamage. Die einen ziehen sich zurück und lassen sich in der Öffentlichkeit nicht mehr sehen. Andere versuchen es offensiv, indem sie ihr Vergehen bestreiten oder gar andere beschuldigen und verantwortlich machen.

Genauso hat es Adam gemacht. Er wälzt die Schuld ab auf die Frau. Hätte sie ihm die Frucht nicht gereicht!? Dabei war er doch dabei, hätte ihr wehren, hätte nein sagen können! Genau deshalb wird er dann ja auch von Gott verantwortlich gemacht (V. 17). Und dann macht er auch noch Gott selbst verantwortlich. Hätte der ihm diese Frau nicht zur Seite gestellt, dann wäre alles nicht passiert! Dieses Lied kommt uns sicher sehr bekannt vor. Viele Milliarden Male ist es im Lauf der Menschheitsgeschichte schon gesungen worden. Und das völlig unabhängig von der Weltanschauung. Jeder Mensch versucht natürlicherweise, sich selbst zu entlasten, sich zu ent-schuldigen, die Schuld auf andere Menschen, auf die Umstände, das Milieu oder auch auf Gott zurückzuführen. In der Erfindung von Entschuldigen und Ausreden sind wir Weltmeister.

An dieser Beobachtung können wir deutlich erkennen, daß wir niemandem zuerst ein schlechtes Gewissen einreden müssen, bevor wir die befreiende Nachricht des Evangeliums weitersagen. Jeder hat irgendwo mit dem schlechten Gewissen Erfahrungen gemacht und ist darauf ansprechbar. Aber die Reaktionen sind unterschiedlich. Wer seine Schuld zu leugnen sucht und unbedingt makellos dastehen möchte, wird sich immer gegen den Anspruch und Zuspruch des Evangeliums wehren müssen.

Das anklagende Gewissen

1Sam 24,6; Ps 32,2-4; Mt 27,24; 1Tim 4,2

Schon der Gedanke an eine böse Tat kann die Stimme des Gewissens wecken. So hat z.B. Pilatus die Stimme des Gewissens vernommen, als er von den jüdischen Anklägern gedrängt wurde, Jesus zu kreuzigen (Mt 27,24). Es wird vollends laut beim Vollzug des unrechten Tuns: "Aber danach schlug David sein Herz, daß er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte" (1Sam 24,6). Wer gar zurückschaut auf begangenes Unrecht, wird von seinem Gewissen geplagt und gestraft. So haben z.B. die  "Lügenredner ein Brandmal in ihrem Gewissen" (1Tim 4,2), und diese innere Unruhe kann unter Umständen sogar dazu führen, daß jemand - wenn auch spät - bereut und umkehrt (vgl. 1Sam 24,10; Lk 23,40-43). Das böse Gewissen plagt und "beißt" (Hi 27,6), es macht Vorwürfe und belastet das Herz (vgl. 1Sam 25,31). Ja es kann sogar so weit kommen, daß man vom schlechten Gewissen (psychisch und körperlich) krank wird (Ps 32,2-4)

Das reine Gewissen

1Ptr 3,21; Hebr 9,9.14; 10,22

Es ist verständlich, daß jeder Mensch sein belastetes Gewissen loszuwerden sucht. Wie schon bei Adam und Eva zu erkennen, kann der Mensch normalerweise nicht zu seiner Schuld stehen. Er versucht sie abzuschieben, andere zu beschuldigen, sich selbst zu entschuldigen, seine Verantwortlichkeit zu verneinen, seinen Beitrag zu beschönigen usw. Derartiges Verhalten ist unabhängig von einer christlichen Prägung. So wurde ein Stuttgarter Pfarrer von einem jungen Mann aufgesucht, der mit Christentum nichts im Sinn hatte, sich aber mehrfach vergewisserte, daß er es mit einem Pfarrer zu tun hatte. Darauf erzählte er ihm, daß er in einem Kaufhaus einen höheren Geldbetrag entwendet hatte. Dies wolle er jetzt wieder zurückgeben und den Pfarrer bitten, es für ihn zu tun. Dieser junge Mann versuchte sein Gewissen zu beruhigen, indem er das begangene Unrecht wiedergutzumachen versuchte.

In jeder Weltanschauung einschließlich des Atheismus finden wir das typische Bemühen, Schuld loszuwerden. Meist versucht man jedoch erst gar keine Wiedergutmachung. Vielmehr werden andere zu Sündenböcken gemacht oder auch einfach die Stimme des Gewissens zum Schweigen gebracht. Tatsächlich kann das Gewissen so abgestumpft und angepaßt werden, daß es sich nicht mehr meldet. Wieviel Unrecht z.B. ist auf diesem Weg während der Zeit des Nationalsozialismus verübt worden. Auch der Prozeß gegen Erich Honecker hat gezeigt, daß das Gewissen völlig umgepolt werden kann. Und dennoch ist es da. Es kann wieder geweckt werden. Ein geringfügig wirkender Anlaß genügt. So haben z.B. die in Walddorf bei Karl Wezel gepflegten "Zeugnisabende" bei nicht wenigen der Teilnehmer bewirkt, daß ihnen über dem Zuhören, wie Gott bei anderen wirkte, selbst das Gewissen schlug. Sie suchten Seelsorge, haben gebeichtet und Vergebung erfahren.
Damit geschieht genau das, was zum Zentrum des christlichen Glaubens gehört: Kein Mensch kann sich selbst das Gewissen entlasten. Kein eigenes Tun und auch keine fromme Leistung, keine Buße, kein Ablaß, kein Ersatz, kein Gottesdienst (Hbr 9,9), kein Vaterunser vermögen das Gewissen zu reinigen. Ausschließlich Gott selbst kann und will das tun. Seine abgrundtiefe Liebe im Hergeben seines Sohnes ist das unübersehbare Signal: Dir ist vergeben. Alles liegt nun daran, das zu glauben, anzunehmen und gelten zu lassen - gegen die Stimme des eigenen Gewissens. "Ein böses Gewissen ist die Hölle selbst, und ein gutes Gewissen ist das Paradies und Himmelreich" (M. Luther). Genau dies wird durch den Zuspruch des Evangeliums erfahrbar (vgl. 1Ptr 3,21; Hbr 9,14; 10,22).

Gottes Stimme und das Gewissen

1Kor 4,1-4; 8,7-12; 10,25-29

Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum zu meinen, daß die Stimme des Gewissens mit der Stimme Gottes identisch sei. Das Gewissen ist vielmehr sehr variabel, je nachdem wie es geprägt wurde. Letztlich könnte man dann alles als dem Willen Gottes gemäß rechtfertigen. Deshalb hebt Paulus verschiedentlich hervor, daß nicht das Gewissen den letzten Maßstab darstellt. Selbst ein reines Gewissen bedeutet keine Rechtfertigung (1Kor 4,4). Wer nur nach der Gewissensprägung geht, wird leicht zum Tyrann für die Gemeinde: Viele neubekehrte Korinther waren vom heidnischen Götzenkult geprägt und konnten das Fleisch, das bei den Götzenmahlzeiten verzehrt wurde, nur als dämonisch verstehen. Andere dagegen hatten damit keine Probleme, weil für sie klar war, daß es keine Götzen gibt. Aber die einen werden so den anderen zum Anstoß. Paulus nimmt deshalb das schwache, leicht verletzliche Gewissen vor der Freiheit der Starken in Schutz. Aber gleichzeitig macht er ihnen deutlich, daß sie noch zu lernen haben. Entscheidend ist jedenfalls nicht, was wir denken und meinen, entscheidend sind nicht unsere Prägungen, sondern allein Gottes Wort. Das miteinander zu lesen und zu verstehen, müssen wir uns immer wieder bemühen. Dadurch wird dann auch unser Gewissen auf Dauer neu geprägt.

Claus-Dieter Stoll