Gehorsam

„Gehorsam“ und „gehorchen“ sind heute zu Reizwörtern, ja zu „Unwörtern“ geworden: Sie sind aus dem heutigen Sprachgebrauch weithin verschwunden und haben einen negativen Beigeschmack bekommen.
Wohin „blinder Gehorsam“ und „Kadavergehorsam“ („Befehl ist Befehl!“) führen, wissen wir aus dem „Dritten Reich“. Gehorsam ist heute kein moralisch positiver Wert mehr.
In der „68er-Revolution“ wurden alle Autoritäten (Staat, Kirche, Eltern, Lehrer, Richter, Lehrherren...), die Gehorsam forderten, „kritisch hinterfragt“, madig und lächerlich gemacht. „Emanzipation“ (Befreiung) aus allen Arten von Abhängigkeiten war das Ziel, Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen wurden abgelehnt und abgeschafft. Gehorsam ist heute kein allgemein akzeptiertes Erziehungsziel mehr.
Heute prägt der Individualismus fast alle Lebensbereiche: „Ich tue, was ich will!“ „Ich lebe, wie ich will!“ „Recht ist, was mir Geld bringt!“ „Recht ist, was Spaß macht!“ „Ich lebe mein Leben!“ Gehorsames Verhalten ist heute keine anzustrebende Tugend mehr.
Aber die drängende Lebensfrage bleibt: Auf wen höre und horche ich? Wem ge-horche ich? Wem ge-höre ich?

Hören - horchen - gehorchen

In der Bibel haben „Gehorsam“, „gehorchen“ grundlegende Bedeutung für Glaube und Leben. Weil Gott spricht (das häufigste Verb, das in der Bibel in Zusammenhang mit Gott genannt wird, heißt: sprechen, reden!), ist die Aufgabe des Menschen:

  • auf das Wort hören,
  • dem Wort Ant-Wort geben (Gott gehören),
  • Ver-Ant-Wortung für das Gehörte übernehmen (Gott gehorchen).

„Hören“ und „gehorchen“ sind im Hebräischen ein und dasselbe Wort; im Griechischen leitet sich - wie im Deutschen - „gehorchen“ von der Wurzel „hören“ ab.
Das Hören auf Gottes Reden soll zum Gehorsam führen. Gehorsam ist also ein Hören, das zur Tat wird.
Die Grund-Sätze eines Christen heißen demgemäß (und mit diesen Fragen sollten wir unsere Stille Zeit machen bzw. in den Gottesdienst oder in die „Stunde“ gehen!):

  • „Rede, Herr, dein Knecht hört!“ (1.Sam 3,10)
  • „Herr, was willst du, daß ich tun soll?“ (Apg 9,6 nach Luther alt)

Darauf folgt die Grund-Bitte eines Christen: 1.Kön 3,9a+10!
Zum Zusammenhang zwischen hören und gehorchen (tun): 2.Mo 15,2; Lk 6,47-49; 8,15.21; Röm 2,16; Jak 1,22.23+24; Hebr 2,1-3.

Biblische Beispiele: Hören und gehorchen:

Noah (1.Mo 6,22); Abraham (1.Mo 12,4; 22,2+3!); Josua (Jos 11,15); Hiskia (2.Kö 18,5-7); Josef und Maria (Mt 1,19.20.24; Lk 1,38 + 2,19); Paulus (Apg 26,19; 9,20; 16,9+10) u.v.a.

Biblische Beispiele: Hören und nicht gehorchen:

Adam und Eva (1.Mo 3,1.11.17); Lots Frau (1.Mo 19,26); Aarons Söhne (3.Mo 10,1); Mose (4.Mo 20,10 in Verbindung mit 27,14!); Saul (1.Sam 13,13; 15,22); Jona (Jona 1,3) u.v.a.

Gehorsam und Segen

Der Ungehorsam gegen Gott hat immer negative Folgen (z.B. 5.Mo 11,28; 1.Sam 12,15; Jer 12,17; Eph 5,6). Auf dem Gehorsam Gott gegenüber liegen jedoch immer Verheißungen des Segens, z.B. Erfolg, Gelingen, Wohlergehen (z.B. 2.Mo 15,26; 5.Mo 11,27; Hiob 36,11; 1.Kö 11,38; Jes 1,19).

Gehorsam bei Jesus

Jesus war seinem Vater (nicht Menschen!) gehorsam: Joh 4,34; 14,31. Er lebte radikal den Satz aus Apg 5,29: Gott zu gehorchen ist wichtiger als Menschen zu gehorchen (z.B. Mk 1,35-38; 2,24-28 u.a.). Jesu Weg des Gehorsams war aber gleichzeitig ein Weg durch Leiden bis zum Tod - mit Auswirkungen bis für uns heute: Phil 2,8-11; Röm 15,19; Hebr 5,8. Auch bei Jesus hat der Gehorsam positive Konsequenzen: Mt 7,21+24; Mk 3,35; Lk 11,28; Joh 7,17.

Gehorsam und Glaube - „Glaubensgehorsam“

Im NT ist „gehorchen“ geradezu ein Wechselbegriff für „glauben“: Röm 1,5; 15,18; 1.Pet 1,2. „Nur der Gehorsame glaubt, und nur der Glaubende gehorcht“ (Bonhoeffer).
Glaube fängt immer mit Hören an. Alle eigenen „Eingebungen“, aber auch das verkündigte Wort müssen prüfend rückbezogen werden auf das Wort der Bibel. Glaube ist kein mystisches Schauen, kein In-sich-selbst-Versenken, kein Einswerden mit der Gottheit, sondern Hören auf das von Gott geoffenbarte Wort und Tun dessen, was Gott von mir getan haben will. Die biblischen Gebote geben dafür den Orientierungsrahmen, die biblischen Ermahnungen das Grundraster, in dem und auf dem wir unser alltägliches Leben im Gehorsam wie ein Bild originell, farbig und unverwechselbar „malen“.

Gehorsam und Vertrauen

Gott fordert Gehorsam nicht aus tyrannischer Willkür! Wie viele „Große“ aus der (Kirchen-) Geschichte, wie viele Eltern aus unserer Geschichte taten dies so, und die Menschen (Kinder) beugten sich zähneknirschend unter eine solche absolutistische, autoritäre Diktatur - und bekamen dadurch auch ein völlig falsches Bild vom Gott der Bibel!
Gottes Willen und Gottes Wege für uns entspringen seiner vollkommenen, väterlichen Liebe und sind deshalb immer gut (aber nicht immer leicht!) für uns! Ziel des Gehorsams ist doch, daß „ihr leben könnt und es euch wohl geht“ (5.Mo 5,33). Voraussetzung des Gehorsams aber ist, daß ich Gott kenne und mit ihm in einer Beziehung des Vertrauens und der Liebe lebe. Dazu studieren wir nicht zuerst die Gebote Gottes, sondern schauen auf das, was zuerst kommt: An-Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott!“, auf das, was als Höhepunkt kommt: sein An-Gebot in Jesus Christus (1.Joh 4,9!) und auf das, was zuletzt kommt: sein An-Gebot: Er wohnt bei uns - wir wohnen bei ihm (Offb 21,3). Und das wird - im liebenden Gehorsam - jetzt schon Wirklichkeit: Joh 14,23 und 1.Joh 2,3-5!
Erzieherische Praxis dazu: siehe „Pädagogische Gesprächs-Stunde: Vertrauen weckt Gehorsam“ (Seite.....).

Gehorsam und Verantwortung

Hören und Antworten gehört ebenso zusammen wie Gehorsam und Verantwortung. Als Menschen, die gehorchen müssen, sind wir nie Verantwortungs-los für das, was wir im Gehorsam tun (sollen).
Als Menschen, die „befehlen“ (müssen), sind wir verantwortlich für die Menschen, die uns gehorchen (müssen), und für deren Tun. Gehorsam darf nicht - wie bei vielen NS-Angeklagten - zur Entschuldigung für Verantwortungslosigkeit werden.
Weil der Mensch weder die erste noch die letzte Instanz ist, weil jede(r) von uns begrenzt ist, weil unser Hören und Gehorchen immer durchmischt ist von dem „Wie-Gott-sein-Wollen“ und dem „Sich-von-Gott-nichts-sagen-lassen-Wollen“, darf kein (christlicher) Leiter fordern: „Gehorche mir immer!“ und kein (christlicher) Untergebener sagen „Ich gehorche dir immer!“ Das wäre verantwortungslos!

Nur wo der Gehorsam und die Gehorsamsforderung im Dreieck von Glaube - Vertrauen - Verantwortung sich bewegen, entartet Gehorsam nicht zu Kadaver- oder blindem Gehorsam.

Auf diese Weise führt Gehorsam gerade nicht in falsche Abhängigkeit von Menschen (Obrigkeit, Kirche, Eltern, Vorgesetzte, Lehrer usw.).
Sondern: „Der Gehorsam gegen Gott, aus Liebe zu ihm geboren, macht frei von Menschen-, Behörden- und Tyrannenfurcht. Dieser Gehorsam macht nicht Kadaver, nicht Personen mit gebrochenem Willen und geknicktem Selbstbewußtsein, sondern Persönlichkeiten, die sich vor Gott beugen und vor Menschen stehen“ (Helmuth Egelkraut).

Martin Kuhn, Reutlingen