Einführung Offenbarung

1. Die Johannesoffenbarung enthält diejenige Sicht der Zukunft, die auf Jesus selbst zurückgeht, und zwar auf den auferstandenen Jesus. Dabei fällt auf, dass der auferstandene Jesus dieselben Epochen, teilweise sogar in derselben Gliederung, anspricht, wie es der vor der Kreuzigung lebende Jesus getan hatte. Man vergleiche Mt 24 mit der Offenbarung! Beide beginnen mit der Warnung vor Verführung (Mt 24,4-5; Offb 2-3). Beide sprechen zunächst die Entwicklungen in der Welt an (Mt 24,6-8; Offb 6-9). Beide sprechen dann von der künftigen Not der Kirche und Israels (Mt 24,9-20; Offb 11-13). Beide weisen auf eine höchste und letzte Trübsalszeit hin (Mt 24,21-28; Offb 14-17). Beide führen die Perspektive weiter zur Wiederkunft Jesu (Mt 24,29-31; Offb 19.11 ff.). Deshalb ist es auch hier wichtig, Schrift mit Schrift zu vergleichen, und das heißt ganz praktisch: die Johannesoffenbarung mit der Endzeitrede Jesu in Mt 24 zu vergleichen und Parallelen festzustellen.

2. Die Johannesoffenbarung enthält zugleich eine Zukunftsschau, die über die Endzeitrede Jesu in Mt 24 hinausführt. Sie prophezeit das Tausendjährige Reich (Offb 20,1-6), die letzte Rebellion (Offb 20,7-10), das Jüngste Gericht (Offb 20,11-15) und die neue Schöpfung (Offb 21-22). Allerdings sind auch diese Themen in den Evangelien und teilweise schon im Alten Testament zu finden.

3. Die Johannesoffenbarung lässt uns deutlich den Heilsplan erkennen, den Gott mit der Schöpfung und mit den einzelnen Menschen hat. Ein "Heilsplan" ist etwas anderes als ein "Fahrplan". Zum Fahrplan gehört wesentlich die Uhrzeit, das Datum. Der Heilsplan aber enthält keine Datumsangaben für die einzelnen Ereignisse (vgl. Apg 1,7). Gottes Heilsplan sieht jedoch eine bestimmte Abfolge der Ereignisse vor, die wir nicht willkürlich umstellen können. An dieser Abfolge hat sich die christliche Verkündigung in zwei Jahrtausenden orientiert. Man kann also sagen, dass die Johannesoffenbarung auf einer "Zeitlinie" liegt, sofern man nicht irrtümlich meint, es ginge nach menschlichen Uhren. In dieser Zeitlinie folgen aufeinander: Zeit zunehmender Nöte in der Welt und Kirche - Zuspitzung der Trübsal der Gemeinde Jesu im antichristlichen Reich - Wiederkunft Jesu - Sturz der Feinde Gottes - Tausendjähriges Reich - Letzte Rebellion - Jüngstes Gericht - Neuschöpfung mit dem ewigen Leben. Die Johannesoffenbarung ist so etwas wie ein Leitfaden in diese Zukunft hinein.

4. Die Johannesoffenbarung hat einen universalen Horizont. Es geht hier um mehr als nur das individuelle Heil. Sie hilft uns insofern, aus dem Kreisen ums Ich herauszukommen. Johann Albrecht Bengel unterstrich gelegentlich gerade diese seelsorgerliche Hilfe, die uns vom Ich weg - und zu Gottes großen Zielen hinführt. Die Gemeinde, die Menschheit, die Schöpfung, die Welt der Engel, die neue Erde mit Strom und Pflanzen und vielfältigstem Leben - dies alles wird hier angesprochen. Die Macht des Bösen wird nicht verschwiegen. Aber dass die Macht Gottes weit größer ist und Gott von niemand daran gehindert werden kann, sein Ziel zu erreichen, das ist die tröstliche Kernbotschaft.

5. Die Johannesoffenbarung ist ein augesprochenes Trostbuch. Christen stärkte sie im Leiden: "Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme" (Offb 3,11). Märtyrer wurden zum Durchhalten ermutigt: "Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben" (Offb 2,10). Ungeduldige wurden gemahnt: "Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen" (Offb 13,10). Verzweifelte sahen den Sieg Gottes kommen: "Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus" (Offb 12,10). In ungezählten Christenwohnungen hängt das Bild vom wiederkehrenden Christus auf dem weißen Pferd aus Offb 19,11. Gerade die "Pausen" im Ablauf der Heilsgeschichte sind wichtig, z. B. die Kapitel 4; 5; 10; 15. Sind sie doch konzentrierte Aufblicke zu Gott. Viele Hymnen feiern den dreieinigen Gott, den wir als Christen bekennen, z. B. 4,11; 5,12; 15,3 f.; 19,1 ff. Insofern ist die Johannesoffenbarung auch ein Buch der Anbetung. Trost und Anbetung kommen dort zusammen, wo Gottes Bewahrungen zur Sprache kommen, etwa bei den Versiegelten von Offb 7. Einzigartig sind die Ausblicke ins ewige Leben, z. B. in 2,17; 3,5.12.21; 7,13 ff. und Kapitel 21-22. Kein Wunder, dass die Johannesoffenbarung ein Hauptmotiv der christlichen Künstler in den Mosaiken der antiken Städte und all ihrer Nachfolger wurde. Vielleicht war kein Buch des Neuen Testaments bei den Künstlern so beliebt wie die Johannesoffenbarung.

6. Zu warnen ist vor vorschnellen Gleichsetzungen. Ungezählte Fehlgriffe füllen die Bibliothek der Auslegungen. In Württemberg wurden beispielsweise der bayerische Kurfürst und Napoleon mit dem Antichrist gleichgesetzt. Als die Europäische Gemeinschaft mit zehn Mitgliedern entstand, dachte mancher an die zehn Hörner aus Offb 13,1; 17,3. Thomas Müntzer, einige Zeit ein Unterstützer Luthers, sah sich 1521 zu einem Krieg gegen die Gottlosen durch Offb 14,15 berufen. Gerade die älteste Christenheit warnt uns vor solchen vorschnellen Schlüssen und Gleichsetzungen. Interessant ist ihre Auslegung der Zahl 666 in Offb 13,18. Die Schüler des Apostels Johannes, der die Offenbarung niederschrieb, lassen uns deutlich erkennen, dass schon Johannes selbst keinen Aufschluss darüber geben konnte, wen die Zahl 666 meinte. Ein berühmter Theologe, der aus der kleinasiatischen Schule stammt, die sich auf Johannes zurückführt, wusste es ebenfalls nicht. Es handelt sich um Irenäus, der bis ca. 180 n. Chr. lebte. In seinem Buch gegen die Häresien schrieb er: am ehesten könne man auf "Titan" deuten (V, 30,1 ff.). Aber man müsse die Erfüllung von Offb 13,18 abwarten, bis man wirklich wisse! Dieser Bescheidenheit sollten wir folgen.

7. Die Johannesoffenbarung ist ein einzigartiges Jesusbuch. Man stelle einmal zusammen, was uns allein die Briefeingänge in Kap. 2 und 3 über Jesus Christus sagen! Von der ersten Zeile ("Dies ist die Offenbarung Jesu Christi") bis zur letzten Zeile ("Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen") geht es um Jesus. Kein anderes Buch des Neuen Testaments beleuchtet den auferstandenen Jesus von so vielen Seiten. Wer sich hier nicht zur Liebe zu Jesus führen lässt, muss ein hartes Herz haben.

8. Die Johannesoffenbarung ist eine dringliche Einladung, eine ausgesprochene Evangelisation. Sie geht aus von der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus (Offb 1,9 ff.), sie stellt uns vor das Lamm, das für uns geopfert ist (Offb 5,6 ff.), und noch in der Ewigkeit trägt Jesus die Zeichen seines Sühnetodes als des Lammes Gottes (Offb 21,22;22,1 ff.). Das Schlusskapitel lädt uns immer wieder ein, teilzuhaben am lebendigen Wasser und am Baum des Lebens (22,1 ff., 14). Gleichzeitig warnt sie davor, dem Bösen zu folgen und das ewige Leben zu versäumen (22,11 f. 15). Ab 22,17 herrscht als zentrales Stichwort das große "Komm!" der Einladung. Ob wir auch sagen können: "Amen, ja, komm, Herr Jesus!"?

9. Noch ein paar Daten zur Johannesoffenbarung: Nach den ältesten kirchlichen Nachrichten verfasst von Johannes, dem Apostel und Sohn des Zebedäus. Geschrieben vermutlich unter Kaiser Domitian (81-96 n. Chr.). Damit die letzte und jüngste neutestamentliche Schrift. Teil der johanneischen Schriften, die das Johannesevangelium, die drei Johannesbriefe und eben die Johannesoffenbarung umfassen, also insgesamt fünf von den 27 Schriften des Neuen Testaments. 22 Kapitel, damit die viertgrößte (nach Kapiteln gerechnet) Schrift des Neuen Testaments.

Prälat Dr. Gerhard Maier, Ulm