Opfer

"Das Opfer am vergangenen Sonntag betrug 283 Mark und 83 Pfennige!" So hören wir es fast jeden Sonntag. Der Pfarrer - vor dem Altar stehend - verkündet uns die Opferbereitschaft des vergangenen Sonntages. Vielleicht vergleicht jemand dann das Opferaufkommen mit der Predigt und kommt zu dem vermeintlichen Schluss: "Gutes Opfer - guter Pfarrer!" Am Karfreitag wird in unseren Gemeinschaften dieses Wort "Opfer" im Mittelpunkt unserer Auslegung stehen. "Opfer"? Geht es um das Frühjahrs-Dankopfer - oder um einen Aufruf, die gute und wichtige Arbeit von uns Apis durch Opfer zu unterstützen? Opferaufrufe haben ihren Platz. Auch das Frühjahrs-Dankopfer sollte im Jahr 2001 nicht zu kurz kommen, aber an Karfreitag führt uns das Grundwort "Opfer" zu Jesus Christus.
Das Wort "Opfer" mit Jesus Christus zu verbinden, ist in unseren Tagen auch in unserer Kirche umstritten. Ist es richtig, das Leiden und Sterben Jesu mit dem Opfergedanken in Verbindung zu bringen? Hat der Tod Jesu einen übergeordneten Sinn - oder ist Jesus damals dem Machtstreben einiger führender Theologen Jerusalems bzw. dem Machterhaltungsstreben eines römischen Prokurators namens Pilatus zum Opfer gefallen?
In fünf Überlegungen wollen wir uns an Karfreitag dem nähern, was am Kreuz von Golgatha geschehen ist: Jesus Christus wird zum "Opfer" (Hebr 9,14). In ihm versöhnte Gott die Welt mit sich, Gott selbst (2.Kor 5,19). Auf diesen Weg wollen wir uns begeben, wenn wir uns - als "geistliche Grundlegung" - überlegen wollen, was das Wort "Opfer" bedeutet.

1. Das Opfer im Alten Testament
Im Alten Testament gibt es unterschiedliche Opferarten. Zusammengefasst kann Opfer "das Dargebrachte" genannt werden. Gott wird ein Teil vom Besitz dargebracht. Wer sich näher über die verschiedenen Opferarten informieren will, kann dies im 3. Buch Mose nachlesen. In den ersten sieben Kapiteln werden die unterschiedlichen Opferarten aufgeführt und erklärt. Da finden wir z.B. das "Sündopfer" (oder auch "Schlachtopfer"), das dem Menschen die Sühne für die nicht vorsätzlichen Übertretungen ermöglicht. Nach biblischem Verständnis trennt die Schuld des Menschen ihn von Gott. Diese Trennung ist nicht nur räumlich zu verstehen, sondern die ganze Existenz des Menschen kann vor Gott nicht mehr bestehen. "Tod" ist der Begriff, der hier benützt werden muss: Der Mensch, der schuldig geworden ist, hat sein Leben verwirkt (1.Mo 2,16f). Dass er noch 70, 80 Jahre lebt (Ps 90,10), hebt das Todesurteil nicht auf. Wer sündigt, muss sterben! Gott selbst aber bietet die Möglichkeit eines Ersatzes. Das Leben eines Tieres wird stellvertretend in den Tod gegeben, damit der Mensch leben kann. Dieser Gedanke der "Stellvertretung" steht hinter dem Sündopfer. Interessant ist, dass Gott nicht von jedem Menschen das gleiche Sündopfer fordert: Der Hohepriester muss einen Stier darbringen, ein Fürst einen Bock, während der Bürger eine Ziege bzw. ein Schaf darbringen soll. Gott überfordert keinen. Sühne ist keine Frage des Geldes: Wer wenig Besitz hat, dem ermöglicht Gott Sühne durch eine Ausnahmebestimmung: Ein Armer darf eine Taube bringen. Gott geht es um die innere Haltung beim Opfer.
Den Ablauf eines solchen Opfers beschreibt 3. Mose 4 ab Vers 27: Zuerst wird das Opfertier dargestellt. Dabei soll der Glaube zum Ausdruck gebracht und der Wunsch nach Vergebung ausgesprochen werden. Danach wird die Hand auf den Kopf des Tieres gestemmt. Hierbei wird dem Tier die Schuld übertragen. Durch die nun folgende Schlachtung lässt das Tier sein Leben für das Leben des Menschen. Das Blut, das aus dem Tier fließt, ist das Leben, das das Tier für die Schuld des Menschen gibt. Das Blut wird an die Hörner des Altars gestrichen (Besprengung). Dabei darf an den Auszug des Volkes Israels aus Ägypten gedacht werden, bei dem das Blut eines Lammes an die Türpfosten gestrichen worden war. Beim Opfer wurde deutlich: Die Schuld ist bezahlt und damit getilgt. Anschließend wurde das Fell, Fleisch und die Eingeweide auf einem reinen Platz vor dem Lager verbrannt, während das Fett (das Wertvollste!) auf dem Altar verbrannt wurde. Es gab daneben auch noch andere blutige Opfer. Herauszuheben ist das Dankopfer. Hier wurde Gott durch ein Opfer gedankt. Nach dem Verbrennen des Fettes wurde jedoch das Fleisch nicht auch verbrannt, sondern es gab anschließend ein Festmahl. Es sollte ein Fest der Versöhnung sein - ein Bild der wiederhergestellten Gottesgemeinschaft. Gott selbst lud zum Essen ein - Zeichen, dass der Mensch solche Gemeinschaft mit Gott haben konnte.
Neben den blutigen gab es im alten Israel auch unblutige Opfer. Dazu gehören die Speiseopfer, aber auch der Zehnte. Der Zehnte steht dem, was wir in den Stunden und Gottesdiensten "opfern", am nächsten. Wir geben Gott etwas von unserem Besitz aus Dankbarkeit, dass er in unser Leben getreten ist.
Bis zur Zeit Jesu wurden im Jerusalemer Tempel die Opfergaben (Sühnopfer und Zehnter) Gott dargebracht. Auch Jesus nahm an den Opferfesten (Passah!) teil. Sogar nach dem Sterben und Auferstehen Jesu gingen die Apostel in den Tempel, um dort Opfer darzubringen. So opferte Paulus (Apg 20) ein Sündopfer nach 4. Mose 6,10ff wegen einer Unterbrechung eines Gelübdes. Erst mit der Zerstörung des Tempels entfiel das Opfer grundsätzlich.

2. Jesus Christus sieht sich als "Lösegeld" für die Menschen
Der Ort, an dem das Opfer dargebracht wurde, war für die Juden Jerusalem (im Gegensatz zu den Samaritanern Joh 4,20). Genauer gesagt war es der Tempel, der in Jerusalem stand. Im Laufe der Jahrhunderte hatte zwar das Volk Israel immer wieder auf Höhen angebetet. Die Propheten aber griffen im Auftrage Gottes diese Praxis immer wieder an. Gott hatte sich Jerusalem als den Ort der Anbetung ausgesucht (Ps 122 oder auch 5.Mo 12,5). Auch wenn die Erzväter und die Richter noch verschiedene Anbetungsstätten hatten, setzte sich der Jerusalemer Tempel bei den Juden durch. Gott selbst schenkt Israel diesen Ort der Anbetung, benützt aber Menschen, um diesen Ort durchzusetzen. So ist der Reformkönig Josia (2.Kön 23) ein gutes Beispiel, wie Gott Menschen benützt, um den Opferdienst in Jerusalem zu konzentrieren. Jesus selbst hatte verheißen, dass er den Tempel in drei Tagen aufrichten werde (Joh 2,19). Jesus prophezeite, dass die Juden den Tempel einreißen würden. Dies geschah in dem Augenblick, als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde und starb. Jesus ist der Ort der Anbetung, der Ort der Vergebung. Dieser Gedanke durchzieht die Evangelien. So sagt Jesus (Mk 10,45), dass er sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Beim Lösegeld handelt es sich um einen Begriff aus der Rechtssprache des AT: Lösegeld ist die Ersatzgabe für eine menschliche Schuld oder auch fahrlässiges Verhalten (vgl. 2.Mo 21,30). Weil kein Mensch sein Leben selbst lösen kann (Mk 8,37), gibt Jesus Christus sein Leben für uns. In diesem Zusammenhang sei auf zwei Büchlein von Prof. P. Stuhlmacher, Tübingen, hingewiesen: "Das Wort vom Kreuz" und "Was geschah auf Golgatha?" Die im Calwer Verlag erschienenen Bücher führen gut verständlich in die Fragestellungen um den Tod Jesu ein.

3. Jesus Christus ist das Opferlamm und der Sündenbock
Schon früh im Wirken Jesu wird ihm der Titel "Lamm Gottes" gegeben (Joh 1,29). Um Johannes zu verstehen, müssen wir zurück in die Geschichte Gottes mit seinem Volk gehen.
Das Lamm Gottes führt uns zu dem Lamm, das jede Familie des Volkes Gottes vor dem Auszug aus Ägypten vor dem Tode gerettet hat (2.Mo 12). Auf Anweisung Gottes hin hatte jede Familie der Israeliten am Vorabend vor dem Auszug aus Ägypten ein Lamm geschlachtet. Das Blut wurde an die Türpfosten geschmiert. Dieses Blut bewahrte die Israeliten vor der Tötung aller Erstgeburt in dieser Nacht. Über die Jahrhunderte hindurch war das Passahfest gefeiert worden. Wie das Blut an der Tür das Leben ermöglichte, so ermöglicht das Sterben Jesu uns das ewige Leben.
Jahrhunderte später bezog der Prophet Jesaja (53, 4.5.7) den Begriff "Lamm" auf den kommenden Messias. Der Messias wird als leidender Knecht Gottes auftreten. Nicht in Herrlichkeit, sondern erniedrigt wird er für uns Menschen sterben. Beide Gedanken führen zu Johannes dem Täufer. Er nimmt sie auf und weist auf Jesus Christus hin. Wie das Lamm für die Erstgeburt gestorben ist, so stirbt Jesus Christus für uns Menschen. Damit rettet Jesus uns aus dem Ewigen Tod (1.Kor 5,6-8).
Neben dem Begriff des (Opfer-)Lammes verweist uns das Neue Testament auch auf den großen Versöhnungstag (hebr.: jom ha-kippurim).
Der 10. Tag des 7. Monats (Tischri) war der Tag des Fastens, der Buße und der Arbeitsruhe (3.Mo16,29.31; 23,27-32; 4.Mo 29,7). Der Hohepriester erwirkte an diesem Tag die Versöhnung der Sünden - und zwar für sich und für das Volk. Für die erkannten Sünden gab es eigentlich andere Opfer. Hier ging es gerade auch um die unwissentlich begangenen, unerkannten Sünden (vgl. Hebr 9,7). Nur an diesem Tag durfte der Hohepriester das Allerheiligste betreten. (vgl. dazu 3.Mo 16). Zuerst musste der Hohepriester Versöhnung für seine Schuld erlangen. Dies geschah durch das Opfern eines Stieres am Brandopferaltar. Das Blut wurde auf den Deckel der Bundeslade gespritzt, die Pfanne mit Räucherwerk im Heiligtum auf die Glut gelegt.
Dann wurden zwei Böcke genommen. Einer (V. 15) wurde auf dem Brandopferaltar Gott als Sündopfer für das ganze Volk dargebracht. Das Blut wurde im Heiligsten auf Gottes Gnadenstuhl gesprengt. Dann stemmte der Hohepriester dem zweiten Bock die Handfläche auf den Kopf. Dies geschah als Zeichen der Schuldübertragung. Nun trug der "Sündenbock" die ganze Schuld. Der Bock wurde in die Wüste geführt, dort sich selbst überlassen zum Zeichen, dass der Bock die Schuld aus Israel weggetragen und Gott die Schuld vergeben hat.
Der Hebräerbrief nimmt diesen Gedanken auf. Und doch unterscheidet der Schreiber zwischen dem Opfer des AT und dem Opfer Jesu. Während der Hohepriester in die Stiftshütte ging, ging Jesus Christus in den Himmel. Beim Großen Versöhnungstag wurde das Blut von Böcken geopfert, Jesus Christus dagegen gibt sein eigenes Blut, das ohne Fehl und Tadel ist. Damit unterscheidet der Hebräerbrief zwischen dem Abbild des Versöhnungsopfers und dem einmaligen Opfer Jesu (Hebr 9,28).

4. Das Abendmahl und Jesus Christus
Diese Gedanken der Sühne und Vergebung finden wir im Abendmahl wieder. Am Abend vor seiner Gefangennahme feiert Jesus Christus mit seinen Jüngern das Passahfest. Die normale Liturgie greift er auf, deutet sie jedoch auf sein Leiden und Sterben. Sein Leib wird für uns gebrochen, wie das Brot gebrochen wird. Sein Sterben aber ist für die Menschen zum Heil - deshalb wird das Brot verteilt. Der Kelch wird genauso gedeutet. So wie das Opferblut für den Menschen floss, so vergießt er sein eigenes Blut für uns. Der Kelch mit dem Gewächs des Weinstockes wird zum Bild für das Blut Jesu. Dort, wo wir das Abendmahl feiern, will uns Jesus Christus in, mit und unter Brot und Wein begegnen. Deshalb wird nach der württembergischen Abendmahlsordnung ohne Ausnahme in allen Formen (!) der Abendmahlsgestaltung ganz bewusst auf die Sündenvergebung in irgendeiner Weise hingewiesen. Das Sterben Jesu und seine Auferstehung bringt uns die Verbindung zu Gott, die durch unsere Schuld zerstört worden war - in einer neuen Qualität wie das Opfer des Alten Testaments, aber in deutlicher Verbundenheit.
Die Liturgie des Abendmahles ist dadurch geprägt durch den Ernst, weil wir um unsere Schuld und um Jesu Leiden am Kreuz wissen. Aber trotz dieses Ernstes dürfen wir wissen: "Der allmächtige Gott hat sich über uns erbarmt." So darf das Abendmahl geprägt sein von Ernst und (geistlicher) Fröhlichkeit. Deshalb hat sich in manchen Gemeinden durchgesetzt, nach dem Sündenbekenntnis und dem Zuspruch der Vergebung nicht "Christe, du Lamm Gottes" zu singen (dies wird vorgezogen), sondern z.B. "Von Gott kommt mir ein Freudenlicht", denn wir dürfen wissen: Das Abendmahl feiern wir als Erlöste, weil Jesu Opfer uns befreit und in die neue Gottesgemeinschaft gestellt hat.

5. Unsere Stunde am Karfreitag
Auch wenn das Wort "Opfer" für unsere Ohren wie Geld am Ende der Stunde oder des Gottesdienstes klingt, so darf die Stunde am Karfreitag nicht dieses "Opfer" im Zentrum haben. Vielleicht ist hierfür sowieso der - für unsere Ohren ungewohnt klingende - Ausdruck Kollekte/Gabe geeigneter.
Wir wollen uns ganz auf das Opfer Jesu konzentrieren. In den meisten Gemeinden wird am Karfreitag schon das Abendmahl gefeiert worden sein. Wenn nicht, könnte ich mir vorstellen, dass wir diese Stunde dazu nützen, als Gemeinschaft miteinander Abendmahl zu feiern. Sicher wird eine Person, die von unserer Landeskirche dazu berufen ist, bereit sein, mit uns das Abendmahl zu feiern. Auch sonst könnte der Kelch und das Brot, Jesu Leib und Blut, im Zentrum unseres Blickfeldes stehen. Wir könnten anhand des Abendmahles fragen, wie Jesus seinen Tod gesehen hat (Mk 8,37; 10,45; Joh 2,19ff; 3,16 und 1.Kor 11,23ff). Dazu ist auch der Satz des Johannes des Täufers wichtig: "Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt." (Joh 1,29). Hierzu kann uns das Bild des Opferlammes mit der Siegesfahne Jesu Wirken vor Augen führen. Dort ist das Lamm mit dem Kelch zu sehen, in den das Blut fließt. Der leidende Gottesknecht schafft durch sein Blut Vergebung der Sünden und wird dadurch zum Sieger von Golgatha.
Wer Freude hat, sich in die Opfer des Alten Testamentes zu vertiefen, kann dies z.B. anhand von 3. Mose 1-7 tun. Besonders sei hier auf das Sündopfer verwiesen (Kap. 4). Wir sollten jedoch aufpassen, dass wir ins Zentrum unserer Stunde Jesus Christus stellen und nicht die Opfertheologie des Alten Testamentes, so wegweisend sie auch für uns Christen ist.
Den Begriff des Opfers in Verbindung mit Jesus Christus sehen wir deutlich in Hebr 9. Hier wird aus dem Alten Testament und der damaligen Opferpraxis das einmalige Opfer Jesu abgeleitet. Ausgewählte Abschnitte aus dem 9. Kapitel könnten auch zur Grundlage der Auslegung genommen werden.
Auf eine Gefahr einer Karfreitagsstunde - wie auch des Gottesdienstes - möchte ich noch hinweisen. Genauso wie Jesus Christus nicht nur auferstanden ist, ist er auch nicht nur gestorben: Als Christen dürfen wir an Karfreitag schon wissen, dass Jesus Christus auferstanden ist. Die Auferstehung ist das sichtbare Zeichen, dass Gott die Schuld vergeben hat. So gehört auch an diesem Freitag der Ausblick auf Jesus Christus und das Ziel, zu dem er uns berufen hat, dazu. So soll uns das Grundwort "Opfer" zu Jesus Christus führen, der uns erlöst und erworben hat. Darauf können wir getrost leben und sterben.

Gottfried Holland, Freudenstadt